: „Hast du auch deine Susi mit!?“
Die Choreografin Felicitas Binder sucht händeringend männlichen Nachwuchs für das Kinderballett der Deutschen Oper Berlin
INTERVIEW JUTTA HEESS UND MARTIN REICHERT
taz: Frau Binder, Sie trainieren mit Kindern ab sechs Jahren für die Ballettaufführungen „Kinder tanzen für Kinder“. Müssen Sie streng sein?
Felicitas Binder: Ja, ich bin streng. Zweimal pro Woche Training, zweimal pro Woche proben, Disziplin von vorne bis hinten – mein Mann sagt auch immer, dass ich viel zu streng bin. Aber anders geht es gar nicht. Manche Mütter berichten mir, dass ihr Kind nach dem Unterricht wie ausgewechselt ist. Plötzlich sind sie artig.
Sagen Sie auch notfalls: Du kannst es nicht, geh lieber zum Tennisunterricht?
Eher ist es so, dass die Kinder von allein aufhören, weil der Druck in Kombination mit der Schule zu stark wird. Ich richte es so ein, dass die Begabten die guten Rollen übernehmen, und die weniger Guten werden als Schornsteinfeger oder Harlekin eingesetzt. Manch einer rennt dann eben nur einmal über die Bühne – aber Dabeisein ist für die Kinder alles.
Zu Ihnen kommen doch ohnehin die eher begabten Kinder, oder?
Die Deutsche Oper ist das zweitgrößte Opernhaus Deutschlands. Was hier auf der Bühne gezeigt wird, muss qualitativ gut sein, da gibt es kein Pardon.
Sie schmieden Karrieren?
Wir haben in der Tat Jugendliche, die direkt von mir in Engagements gegangen sind, da freue ich mich auch sehr darüber. Zurzeit habe ich ein sehr begabtes Mädchen, ein Naturtalent, da hat der liebe Gott an alles gedacht. Aber die Mutter sagt Nein zu einer Karriere als Tänzerin, „meine Tochter wird nicht in der Sozialhilfe enden“. Und sie hat ja auch Recht, es wird immer schwieriger.
Inwiefern?
Die Struktur in Deutschland hat sich verändert, Compagnien und Tanztheater werden abgeschafft, es gibt noch die Staatsballette wie in Berlin, Hamburg, Stuttgart, München Düsseldorf – aber dann hört es auch schon auf. Da sind gerade mal 80 Tänzer beschäftigt, viele enden in der Provinz. In der DDR hatte das Ballett noch einen ganz anderen Stellenwert.
Die russische Schule?
Ja. Dort gibt es noch eine staatliche Ballettschule. Die Kinder werden von Ärzten untersucht, ob sie die notwendigen körperlichen Voraussetzungen mitbringen. Das machen allerdings Wien und Hamburg mittlerweile auch. Russland hat natürlich auch eine große Balletttradition. Bei einem Staatsbesuch präsentieren sie ihr Ballett, ob das Kirow oder Bolschoi ist.
Wir hatten letztes Jahr hier an der Deutschen Oper ein Gastspiel von Kirow, und ich bin jedes Mal wieder verzaubert. Diese Tradition haben wir natürlich nicht.
Vielleicht hat großes Ballett neben Tradition auch etwas mit Seele zu tun?
Vielleicht. Aber es hängt sicher auch damit zusammen, dass die Tänzer in Russland wissen, dass sie im Alter abgesichert sind. Da hat Deutschland meiner Meinung nach einen Fehler gemacht.
Wir dachten da etwas romantischer …
Bei uns herrschte in all den Jahren immer diese Angst, ob man im dreizehnten Jahr gekündigt wird, damit man das fünfzehnte Jahr im öffentlichen Dienst nicht erreicht. Das ist grauenvoll für einen Tänzer. Man wird hier nicht aufgefangen.
Wie lange kann man überhaupt aktiv als BalletttänzerIn arbeiten?
Früher hat man eher aufgehört. Man kann heute gut bis vierzig arbeiten, viele hören aber schon mit Mitte dreißig auf. Da fangen andere erst richtig an zu arbeiten, und du bist schon fertig. Du stehst mitunter auf der Straße.
Ich habe ja Glück gehabt, ich bin immer hier im Haus geblieben, nun mache ich die Kinderarbeit und trete selbst noch auf, das ist schön.
Das ist ja im Grunde eine typische Sportlerkarriere; man wird nach der aktiven Zeit Manager oder Trainer. Aber man kann bestimmt auch nicht BalletttänzerIn sein und nebenbei studieren, oder?
Das können Sie vergessen. Der Job ist viel zu anstrengend. Viele haben da andere Vorstellungen. Als wir vor Jahren bei einem Gastspiel in New York waren, stand ich da mit einem Sektglas auf einem Empfang, und die Amerikaner fragten: „Oh, you are a dancer!? And what is your main job?“ Die denken wahrscheinlich immer noch, man liegt mit einem Champagnerglas in der Wanne und steht abends ein bisschen auf der Bühne. Es ist eben ein richtiger Leistungssport. Ich habe ihn gerne gemacht, aber es war hart! Das geht irgendwann einfach auf die Knochen, man muss permanent auf die Figur achten – und dann dieser ständige Kampf um die Rollen …
Wird denn Ballett immer noch als etwas Elitär-Verblasenes wahrgenommen?
Glaube ich nicht. Die meisten Ballettkinder werden zwar schon mit dem Volvo oder Mercedes vorgefahren, aber wir haben durchaus auch Kinder von Sozialhilfeempfängern. Der Förderverein „Kinder tanzen für Kinder“ übernimmt die Gebühren, wenn die Eltern es nicht können. Ein Talent muss man fördern.
Haben Sie viele Jungen in Ihrer Gruppe?
Nein, die meisten Jungen hören auf, wenn sie von ihren Klassenkameraden gehänselt werden: „Ey, du willst wohl schwul werden.“ Wenn sie in die Pubertät kommen, ist es vorbei.
Alle Balletttänzer sind schwul?
Das war nie so. Wir hatten hier Polen, also da ging es richtig ab in der Compagnie.
Aber es gibt doch mehr Schwule als Heteros im Ballett?
Etwa ein Drittel der männlichen Tänzer ist schwul. Aber gerade die Jungs aus den Ostblockländern, das sind richtige Männer. Die Männer müssen ja auch ganz schön Kraft haben und die Partnerin stemmen.
Ist Ballett gar härter als Fußball?
Es ist härter, es ist schwieriger, es ist außergewöhnlich. Wenn ein Junge nicht in der Masse schwimmen will, dann muss er ins Ballett kommen. Und wenn ein Junge Gefühl für Musik hat, dann soll er es ausprobieren – auch wenn andere schlecht darüber reden. Die Jungs sollen kommen und eine Probestunde machen, sie sind hiermit herzlich eingeladen.
Wo liegen denn die Hauptängste bei den Jungs?
In dem Moment, in dem ein Junge anfangen muss, ein Suspensorium zu tragen, die Abkürzung dafür heißt „Susi“: Hast du deine Susi mit? Das ist eine Umstellung, plötzlich ist das anders als das Normale, und dann kommt dazu: sich auf die Bühne zu stellen mit einem Trikot … ist ja nicht normal …
Sie schämen sich dann also. Wozu braucht man denn ein Suspensorium?
Bim-bam! Bim-bam! Damit die Glocken nicht läuten. Das würde ordentlich wehtun, das muss schon gehalten werden. Stellen sie sich mal vor, eine Frau tritt da aus Versehen rein … oder der Tänzer bekommt versehentlich ein Knie reingerammt.
Liegt es nicht nur an den Jungen, sondern auch an den Eltern? So wie im Film „Billy Elliot“, in dem der Vater seinem Sohn das Tanzen verbieten will?
Ja, die meisten denken, ihr Sohn wird schwul und verweichlicht, wenn er ins Ballett geht. Und das ist absoluter Blödsinn. Der Sohn wird zum Fußball gebracht, die Tochter zum Ballett.
Das heißt im Klartext, es gibt keinen männlichen Nachwuchs?
Bei mir ist es ganz schlimm. Neulich kam eine Mitarbeiterin völlig aufgelöst und jubelnd angerannt. „Juchhu, es ist ein zwölfjähriger Junge aufgetaucht!“ Er sprang auf dem Flur herum, freudestrahlend, und verkündete, dass er zum Ballett möchte. Den hüten wir jetzt wie ein rohes Ei.
Der kleine Prinz.
Ja, aber er fängt ja auch gerade erst an. Den müssen wir erst mal ein Jahr lang formen, aber nächstes Jahr werden wir ihn einsetzen, vielleicht noch nicht als Prinzen.
Worin besteht denn nun der Reiz des Tanzens? Sich leicht zu fühlen wie eine Feder?
Wenn man nicht gerade drei Kilo zu viel auf der Hüfte hat. Das, wofür man sich als Tänzerin und als Tänzer schindet, ist der Moment, in dem der Vorhang aufgeht. Diese Spannung ist unglaublich. Wenn du draußen bist, ist alle Aufregung vergessen, und dann ist wirklich diese Leichtigkeit da. Das ist sehr schön.
Hört sich märchenhaft an.
Von wegen. Wenn man mal wieder nur in der Gruppe tanzt und die Hauptrolle eine andere bekommen hat, dann ist es auch sehr hart. Man muss auch sehr viel einstecken.
Und die Ellenbogen einsetzen?
Ich konnte nie auf dem Schreibtisch des Ballettdirektors sitzen und um Rollen betteln. Ich wollte immer mit Leistung überzeugen.
Hatten Sie schlimme Verletzungen während Ihrer Karriere?
Ich hatte jahrelang überhaupt keine Probleme. Ich bekam erst im zunehmenden Alter Probleme mit den Achillessehnen, die waren völlig vertanzt. Ich hatte Schmerzen ohne Ende, bin aber darüber hinweggegangen. Ich wollte tanzen, und bin teilweise raus auf die Bühne mit dicken, entzündeten Füßen und habe den großen Schwan getanzt. Heute werde ich dafür bestraft. Ich konnte teilweise gar nicht mehr laufen.
Wird im Ballett auch gedopt?
Mit Schmerzmitteln, das geht schon ordentlich über die Theke. „Tanzt du heute Abend?“ „Ja, ich habe gerade vier Voltaren eingeworfen.“
Warum sollte man dann sein Kind zum Ballett schicken?
Viele Mädchen werden wegen schlechter Körperhaltung ins Ballett geschickt. Und nach einer gewissen Zeit laufen manche schon wie ein Mannequin, sie halten sich ganz gerade.
Trotzdem hört sich das alles ganz schön gefährlich an.
Ach was. Wir achten zum Beispiel darauf, dass die Kinder nicht zu früh auf Spitze tanzen. Frühestens zwischen acht und zehn Jahren kann man sie auf die Spitze lassen.
Was sie in jahrelanger mühsamer Arbeit leisten, hat das Weihnachtsmärchen „Anna“ 1987 auf einen Schlag geschafft. Damals quollen die Ballettschulen über. Einen ähnlichen Boom hat es nie wieder gegeben. Fehlt dem Ballett vielleicht ein Superstar?
Es gab genügend Superstars. Da waren Nurejew und Barischnikow, heute haben wir Malakhov. Aber andere Sportarten werden in den Medien mehr gefördert. Und wo immer ich auch hinkomme, heißt es: „Na ja, mein Sohn spielt schon Fußball“ oder macht irgendeine andere Sportart.
Fußball läuft auch zur besten Sendezeit, gibt es Ballettaufführungen im Fernsehen?
Auf jeden Fall zu Zeiten, in denen kein Mensch zuguckt. Das Ballett wird in letzter Zeit stiefmütterlich behandelt, an vielen Häusern läuft es nicht gut. Das Publikum ist nicht mehr da, das Interesse fehlt, zudem sind die Karten sehr teuer. Das finde ich erschreckend und traurig, da geht ein Stück Kultur den Bach runter.
Vielleicht ist Ballett nicht mehr zeitgemäß? Sasha Waltz zum Beispiel mit ihrem modernen Tanz hat großen Erfolg.
Mag ja alles sein. Aber nach der Moderne wird auch immer wieder das Klassische interessant. Mit den Kindern werde ich jedenfalls der klassischen Linie treu bleiben, die klassische Ausbildung ist und bleibt der Grundstock für alles Weitere.
Sind Sie eigentlich eine Diva?
Nein, keinesfalls. Aber unter meinen Ballettkindern gibt es durchaus einige kleine Prinzessinen, die sehr von sich überzeugt sind. Sie wissen, dass sie was können. Gut so!
JUTTA HEESS, 34, ist freie Journalistin (Anfänger- und Fortgeschrittenen-Tanzkurs 1987, Tanzschule Wienholt, Alzey). Als Kind konnte sie eine Anmeldung zum Ballett gerade noch verhindern. MARTIN REICHERT, 33, ist taz-Autor (Bronzenes Tanzabzeichen 1988, Tanzschule Volkert, Koblenz)