: Ohne Kompass
BERATUNGSKULTUR Flucht vor der Verantwortung als Symptom der Zeit: Ulrike Syha erzählt in „Fracht. Nautisches Denken“ im Nationaltheater Mannheim von forcierter Einsamkeit
VON ESTHER BOLDT
„Man kann sich schwerlich noch als Abenteurer gebärden!“ tönt Berater 1, und zustimmendes Nicken ist vorprogrammiert. Es gibt keine weißen Flecken mehr auf dem Globus, wo Seefahrer einst ins Unbekannte aufbrachen, kapern heute somalische Piraten Öltanker. Den vier Protagonisten von Ulrike Syhas Stück „Fracht. Nautisches Denken I–IV“ wohnt wenig Entdeckergeist inne, der Seefahrerromantik sind sie höchstens aus der Ferne zugeneigt.
Ulrike Syha ist in dieser Spielzeit Hausautorin am Nationaltheater Mannheim, uraufgeführt wurde „Fracht“ im Februar am Theater Chemnitz. Ganz titelgemäß sind die vier beruflich hochspezialisierten Kompetenztiere keine Macher, sondern Frachtgut – vor allem im Privaten. Sie werden gehoben und verschoben, sie sind Konfliktvermeider und Wachstumsverweigerer, deren Kompass zum Weg des geringsten Widerstands zeigt. Dabei verklappt Syha die Privatbredouille der Erfolgsgewohnten mit Tagesnachrichten – zwei Ebenen, die am Ende kulminieren.
Wechsel verpasst
Drei Berater und eine Dolmetscherin, die allesamt namenlos bleiben, erzählen eine Episode ihres Lebens, die zum Umschlagspunkt hätte werden können – ihre Konsequenzen aber werden nicht gezogen. So scheitert der Wechsel kläglich: Berater 1 steht plötzlich ein erwachsener Sohn ins Haus, der seinen Erzeuger sucht und keine Vorbildfunktion, Berater 2 erfindet sich einen Bruder, der ihm dann fast zum Verhängnis wird, Berater 3 (weiblich) kommt temporär der Gatte abhanden, dafür wirft sie sich einem falschen Weltretter an den Hals. Und die Simultandolmetscherin lebt sowieso von ihrer Unsichtbarkeit.
In der Inszenierung von Torge Kübler am Nationaltheater Mannheim rattern die vier ihre Geschichten in einem rasanten Schnellsprech ins Publikum, der die Komik der Repliken ebenso forciert wie ihre Einsamkeit. Zudem verschiebt Kübler das Geschwätz der anderen immer wieder ineinander, verdichtet so den Text zum vielstimmigen Chor.
Die Wege der Figuren kreuzen sich im Niemandsland der Wartezonen am Flughafen, wo sie den Boden oder die Tagesnachrichten auf den Bildschirmen anstarren. Der Transfer ist ihr Lebenszustand, auch wenn das Ziel der Reise unklar bleibt. Im Studio des Nationaltheaters haben Regisseur Kübler und Bühnenbildnerin Kathrin Younes einen Wartesaal eingerichtet und das Publikum an die Längsseite gesetzt, sodass die Szene zum Breitwandformat wird. Dort stehen eine Sitzbank, eine überdimensionale Leinwand fürs Nachrichtengeflirre und vier Kastenelemente, die zum Check-in-Schalter, zum Rednerpult oder zum heimischen Sofa werden.
Dominanz Wirtschaft
Jeder der vier Schauspieler spielt sechs bis zwölf Rollen, ihre rasanten Wechsel sind höchst präzise inszeniert – etwa in der ersten Episode, in der Jacques Malan als Berater 1 mit zur Schau gestellter Souveränität zu scherzen beliebt. Doch was Vorstandssitzungen auflockert, sorgt bei seinem Sohn für eisiges Schweigen. Mit seinem Fragenkatalog aus dem Internet verbarrikadiert sich der mal furchtbar eloquente, mal verschreckte Sohn (Matthias Thömmes) hinterm Rednerpult. Ihrer frischen Beziehung können beide nur im Wirtschaftsjargon zu Leibe rücken, ergreift der Sohn im wehenden Anzug die Flucht und lässt den eben noch stolzgeschwellten Vater wieder allein zurück.
Diese Verantwortungsflüchtlinge können einem gehörig auf die Nerven gehen, auch wenn sie sich hier ebenso komisch wie frappierend im Schlagabtausch verwickeln. Mit Kisten, Zeitungen und hochgereckten Strickjacken fingieren sie ständig Schutzzonen gegen das sie penetrierende Außen, denn: „Da draußen ist Internet!“, wie Almut Henkel mit weit ausgebreiteten Armen ruft. Oder auch: „Da draußen ist Krise!“ Sie haben sich längst eingerichtet in einer Welt, in der die Stabilität der Lage schon als Erfolg verbucht wird und man besser private Sicherheitsgebiete in der Badewanne errichtet. Oder auf der Couch.