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Archiv-Artikel

Am besten über Stock und Stein

Zum Radfahren braucht es nicht immer asphaltierte Straßen, das zeigt der hessische Ederauenweg. Ein Radtrip in der freien, unverbrauchten Natur

„Bis zum mittelalterlichen Fritzlar geht es einmal mehr auf schmalen Weglein dahin, die fast ausnahmslos ungeteert sind“

von GERHARD FITZTHUM

Radfahren ist angesagt. Wurden die freizeitmäßigen PedaltreterInnen in den Achtzigern noch als arme Schlucker oder unverbesserliche Spinner abgetan, so haben heute selbst begeisterte Autofahrer ein Mountainbike oder ein Tourenrad in der Garage stehen – und nutzen es auch, nicht nur sonntags, sondern auch im Urlaub.

Das Freizeitverhalten der Deutschen hat sich dramatisch verändert und aufgrund dessen leider auch die Landschaft. Weil der Radtourismus im darbenden Hinterland als Rettungsanker firmiert, haben die Kommunen überall die Asphaltmaschinen auffahren lassen – mit Hilfe von Landeszuschüssen und mit dem Segen des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC). Der heutige Radfahrer, so glaubt man hier, wolle ideale Rollbedingungen, also saubere Bitumen-Untergründe, keine Schotterpisten und vor allem keinen Dreck. Was liegt also näher, als Teerbänder durchs Land zu ziehen, ganz so, wie man das vor fünfzig Jahren für den Autofahrer getan hat? Weil der widerstrebende Naturschutz den wirtschaftlichen Interessen untergeordnet wird, ist diese zweite Asphaltierung der Republik in vollem Gang.

Eine erfreuliche Ausnahme gibt es jedoch: den nordhessischen Ederauenweg. Gerade mal 180 Kilometer lang, liegt er im Windschatten der prominenten Flussradwege von Weser, Werra und Fulda. Schon das Quellgebiet ist ein kleines Paradies. 1991 ließ ein engagierter Oberforstrat das Mauerwerk, mit dem eine der Sickerquellen künstlich gefasst worden war, abreißen und den ganzen Ederbruch renaturieren. Der ökologische Erfolg der Maßnahme spricht für sich: Man zählt im Quellgebiet wieder bis zu 150 Blütenpfanzen, 50 verschiedene Moose und vom Aussterben bedrohte Arten wie das Nordische Purpurraitgras. Auch die folgenden Kilometer überraschen mit einer Ursprünglichkeit, die längst Seltenheitswert hat. Der markierte Weg zieht sich durch eine sich selbst überlassene Talaue, der Bach mäandert in unzähligen Windungen durch offenes Gelände und Auwälder. Neubauten, technische Eingriffe und Hochspannungsleitungen sind nirgendwo zu sehen. Das Naturschutzgebiet im Hilchenbacher Staatsforst gehört ohne Zweifel zu den bezauberndsten Bergwiesenlandschaften Mitteleuropas.

Szenenwechsel in Erndtebrück. Das Grün der Wiesen und Weiden ist aus dem Blickfeld verschwunden. Eine hässliche Gewerbehalle reiht sich nun an die nächste, der gut befahrbare Naturweg hat sich in eine breite Asphaltschneise verwandelt, der Boden ist großräumig versiegelt. Als Wanderer würde man hier schlagartig die Lust verlieren, aber mit dem Rad ist man schnell wieder draußen – in jener „unverbrauchten Natur“, von der im Vorwort des Tourenführers zu Recht die Rede ist. Im Unterschied zum nahen Siegerland war das Wittgensteiner Land nämlich immer nur schwach industrialisiert. Auch die Landwirtschaft wurde aufgrund der schlechten Böden stets nur im Nebenerwerb betrieben. Noch heute fehlt von agrarindustriellen Großbetrieben jede Spur. So trifft man im Außenbereich zwar gelegentlich Fabrikruinen, leer stehende Hallen und aufgegebene Betriebsgebäude, dazwischen aber auch Landschaften, die genauso gut in Schottland liegen könnten. Das Ganze wirkt sehr idyllisch, weil man zumeist auf ungeteerten Feld- und Waldwegen unterwegs ist. Der Ederauenweg erweist sich als Angebot für Radler, die einen möglichst elementaren Zugang zur Natur suchen, die also keine Lust haben, sich die Vielfalt der natürlichen Farben und Formen von einem toten Asphaltstreifen aus anzuschauen.

Wer sich in diese Vielfalt eingebunden fühlen möchte, ist am wenig bekannten Fuldazufluss goldrichtig. Ihm eröffnet sich hier eine vergangen geglaubte Welt – eine Welt, in der es noch Pfützen, Haarnadelkurven und sogar ein kurzes Stück zum Schieben gibt. Hin und wieder wird es so schmal, dass einem die Äste um die Ohren fegen.

Geht es nach Rüdiger Grebe, so wird sich an diesem Ausbau nichts ändern. Der Lehrer aus Bad Berleburg hatte Mitte der Neunzigerjahre ein Schulprojekt lanciert, bei dem ein 1,2 Kilometer langes Teilstück einer ehemaligen Bahntrasse unter strikt ökologischen Gesichtspunkten und unter Einbeziehung der Bevölkerung zu einem Radwanderweg umgebaut wurde. Diente die Maßnahme eigentlich nur dazu, eine Lücke der Befahrbarkeit zu schließen, so wurde sie nach der Eröffnung 1999 schnell zum „Urkilometer“ des Edertal-Radwegs – zu einem Modell- und Vorzeigestück, wie man naturnahe Radwege erschließt, wofür sich plötzlich auch die Kommunalpolitiker zu interessieren begannen. „Zuvor hatten sie geglaubt, dass Radwege nur dort touristisch erfolgreich sein können, wo alles flach und asphaltiert ist“, grinst Grebe.

Ob alle von ihnen Grebes Philosophie der Naturnähe begriffen haben, darf bezweifelt werden. Im Moment wird sein Ansatz aber von den meisten Gemeinden unterstützt. Bei Bad Berleburg entstanden weitere fünfzehn naturnahe Kilometer auf einer stillgelegten Bahntrasse, vor Battenberg erhielt die Verbindungsstrecke zur neuen Radwegebrücke eine wassergebundene Decke, und in Frankenberg baute man den Radlern einen behaglichen Weg durch ein Gelände, das als Ausgleichsmaßnahme für den Bau einer Umgehungsstraße renaturiert worden war. Nur in Hatzfeld hat man die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt und mutet den Radlern ein lästiges Stück auf der Straße zu. Unangenehm wird es auch am Edersee – sofern man an einem Sonntag kommt. Bis zur für Dezember geplanten Fertigstellung des Radrundwegs quält man sich hie und da noch durch Ausflugsverkehr und muss aufpassen, nicht von einem Sonntagsfahrer niedergefahren zu werden.

Kulturelles Highlight des Edersees ist das Staudamm-Museum im ehemaligen Turbinenhaus. Es dokumentiert nicht nur die Vertreibung der Bevölkerung beim Bau des Speicherbeckens, sondern auch die Zerstörung der Mauer durch den Luftangriff der Alliierten im Mai 1943. Bei der daraus resultierenden Überflutung des unteren Edertals kamen fast fünfzig Menschen ums Leben. Aufbereitet ist darüber hinaus auch die allgemeine Geschichte des Edertals, das Kapitel des Luftkrieges über Deutschland und die Rolle der Zwangsarbeiter bei der Staudammreparatur.

Wer befürchtet, dass es zwischen Staudamm und Mündung immer langweiliger werden könnte, täuscht sich gewaltig. Kaum hat man die touristische Tummelzone verlassen, macht der Ederauenweg seinem Namen wieder alle Ehre. Flankiert ist er nun von Auenwäldern, Schilf und Kiesgrubenseen – die Natur hat sich längst wieder alles zurückerobert. Bis zum mittelalterlichen Fritzlar geht es einmal mehr auf schmalen Weglein dahin, die fast ausnahmslos ungeteert sind.

Immer wieder passiert man Beobachtungswände aus Holz, durch deren Sichtschlitze man Graureiher, Eisvögel und Haubentaucher bewundern kann. Verwunderlich ist auch, zu welch großem Strom der Bach geworden ist, an dessen Quelle man vor zwei Tagen gestanden hat. Vor zwei Tagen? – Kaum vorstellbar! Alles scheint viel weiter zurückzuliegen: der kapitale Regenguss am ersten Abend, das versöhnende Abendrot über den Nebelbänken von Wingeshausen, die wunderbaren alten Ederbrücken von Schmitt- und Kirchlotheim und die vielen schönen Kurven und Gefällstrecken, die auch die Kinder mit Begeisterung gemeistert haben.

Infos: Touristik Service Waldeck-Ederbergland GmbH, Südring 2, 34497 Korbach, Tel. (0 56 31) 95 43 59, www.waldecker-land.de