: „Dem Jahrhundert den Stempel aufgedrückt“
Wenn die Jugendlichen in Frankreichs Vororten den Aufstand proben, dann hat das auch mit dem Erbe Napoleons zu tun. Die Versprechungen der französischen Republik sind für sie nur Heuchelei, sagt Professor Etienne François
taz: Herr François, vor 200 Jahren eroberte Napoleon mit seiner Schlacht im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach Deutschland. Im Handgepäck brachte er den Code Napoléon mit. War Napoleon für die Deutschen 1806 das Gleiche wie 1945 der „American way of life“: eine Rundumerneuerung für die Zukunft?
Etienne François: Es gibt einen großen Unterschied. Napoleon war Erneuerer im politischen, administrativen und im rechtlichen Sinne: Die Reformation der Verwaltung, die Säkularisierung, die Einführung des Code civil, die Umstrukturierung der europäischen Landkarte mit neuen, starken deutschen Staaten. Auf der anderen Seite gab es im Widerstand gegen den Aggressor Napoleon den Beginn einer deutschen Nationalbewegung. Diese nationale Bewegung richtete sich stark gegen den Westen. Dies ist der große Unterschied zu 1945. Nach 1945 gab es ein Bekenntnis zum Westen – nach 1806 eher ein Bekenntnis gegen den Westen.
In Frankreich tobt derzeit ein Historikerstreit um Napoleon. Der Autor Claude Ribbe wirft in seinem Buch „Napoleons Verbrechen“ dem Empereur vor, er habe als ein Vorgänger Hitlers in San Domingo tausende von Antillanern vergasen lassen: Welche kathartische Rolle spielt Napoleon für das nationale Gewissen Frankreichs?
Das Buch von Ribbe ist leider einfach nur schlecht. Richtig aber ist, dass Napoleon die Sklaverei wieder eingeführt hat, nicht zuletzt aus persönlichen Gründen, weil seine Frau aus einer reichen Sklavenhändler-Familie kam. Die Erinnerung an Napoleon ist auch in Frankreich immer doppelbödig: Einerseits fasziniert er bis heute, weil er es als ein großer Abenteurer schaffte, einem ganzen Jahrhundert seinen Stempel aufzudrücken. So gesehen war Napoleon ein genialer Mensch. Gleichzeitig aber gibt es ein gewisses Unwohlsein gegenüber dem Hasardeur, der für Frankreich alle Karten verspielte, die es hätte haben können.
Was hat er verspielt?
Die entscheidende Rolle Frankreichs in Europa und den guten Ruf, den es von 1802 bis 1804 hatte. Damals hätten sich beispielsweise die linksrheinischen Gebiete Frankreich sogar freiwillig als Départements angegliedert – genauso wie das Elsass ein paar Jahre zuvor. Nach Napoleons Niederlage gab es durchweg eine große Aggressivität gegenüber Frankreich – zu Recht.
Die Grande Nation hatte mit ihrem revolutionären Nationalverständnis unter Napoleon einen sehr weiten Begriff von der Einheit von Volk und Republik. Spielt dies heute bei den Aufständen der Jugendlichen in den Banlieues noch eine Rolle?
Unbedingt. Die erste Erklärung für diese Aufstände ist ein Gefühl der bitteren Enttäuschung gegenüber den leeren Versprechungen der Nation gegenüber ihren Mitbürgern. Die Bewohner der Vororte haben alle einen französischen Pass und verstehen sich als Franzosen. Gleichzeitig werden sie im Alltag als Bürger zweiter Klasse behandelt. Vieles wird ihnen verwehrt, und sie haben kaum Aussichten auf ein normales Leben. Diese massive Diskrepanz wird als eine Heuchelei der Republik wahrgenommen und führt zu diesen nihilistischen Protesten.
Die Statue von Napoleons Frau Joséphine wurde schon vor zwanzig Jahren in der Hauptstadt von Martinique, Fort-de-France, um einen Kopf kürzer gemacht. Und als kürzlich das französische Parlament die französischen Lehrer aufforderte, die positive Rolle des französischen Kolonialismus zu betonen, ging es unter den farbigen Franzosen hoch her. Wie viel napoleonischer Totalitarismus bestimmt Frankreichs Politik noch heute?
Breite Proteste haben ja glücklicherweise dafür gesorgt, dass Chirac gezwungen war, das Dekret wieder aufzuheben. Die Diskussion über den Stellenwert der kolonialen Vergangenheit im französischen Selbstverständnis aber geht weiter. Frankreichs Geschichte ist nun einmal nicht zu trennen von der Geschichte Algeriens, weiter Teile Schwarzafrikas, mehrerer Inseln in der Karibik – von der Indochinas gar nicht zu reden. Wir stehen erst am Anfang einer Tiefendiskussion mit uns selbst.
In Deutschland sind Sie bekannt geworden durch Ihre „Erinnerungsorte“, eine Sammlung von über hundert historischen Artikeln zu „Weimar“ oder dem „Weißwurstäquator“, zu „Flucht und Vertreibung“ oder zur „documenta I“. Warum haben Sie eigentlich keinen Artikel zu „Jena und Auerstedt“ mit aufgenommen?
Wir, Hagen Schulze und ich, haben ja einen Artikel über Napoleon, über seine Gegenspielerin, Königin Luise, oder über die Völkerschlacht bei Leipzig und das Denkmal von 1913 gemacht. Aber „Jena“ hat man in Frankreich ja trotzdem nicht vergessen. Die „Straße von Jena“ ist eine der größten Pariser Straßen. Und hier sitzt – Ironie der Geschichte – das Pariser Goethe-Institut.FRAGEN: FRITZ V. KLINGGRÄFF