: Das Ende des Ausverkaufs
ANALYSE Was die Hamburger Energienetze mit dem allgemeinen Wohl der EinwohnerInnen zu tun haben
VON SVEN-MICHAEL VEIT
Es ist eine Frage des Gemeinwohls. Jean-Jacques Rousseau schwärmte davon, Adam Smith hielt es in der realen Welt für unmöglich. Platon und mehr als zwei Jahrtausende später Herbert Marcuse befanden, nur Philosophen könnten wissen, was dem Gemeinwohl dient und sollten deshalb regieren. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) indessen ist Jurist, und deshalb ist der Volksentscheid über die Zukunft der Energienetze in der Hansestadt am Sonntag nächster Woche zunächst ein politisches und rechtliches Problem.
In der Hochzeit neoliberaler Denkmodelle um die Jahrtausendwende hatten viele deutsche Städte und Kommunen öffentliche Betriebe und Dienstleistungen verscherbelt. Krankenhäuser und Stadtwerke, Wohnungsgenossenschaften und Entsorgungsbetriebe wurden in Serie privatisiert, Energieversorger ebenfalls. Aus öffentlichen Monopolen wurden private Monopole, bestenfalls Oligopole.
In Hamburg aber stand hinter dem Verkauf der Gaswerke Hein Gas und vor allem der Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW) eine ordnungspolitische Enttäuschung. Der damals amtierende rot-grüne Senat musste resigniert einsehen, dass er zwar die Dreiviertel-Mehrheit an dem Unternehmen hielt, nach Aktienrecht aber nichts zu sagen hatte. Sein Wunsch, die HEW mögen aus den Atomkraftwerken Brunsbüttel, Brokdorf und Krümmel aussteigen, scheiterte am Vorstand. Dann könnte wenigstens das schwindsüchtige Stadtsäckel saniert werden, überlegten SPD und Grüne, und boten die 105 Jahre alten HEW auf dem Markt feil. Der schwedische Staatskonzern Vattenfall griff zu, zahlte in zwei Tranchen umgerechnet gut 1,7 Milliarden Euro und machte aus dem Hamburger Lokalstromer die Vattenfall Europe GmbH. Und die erhielt quasi nebenbei natürlich auch die Versorgungsnetze für Strom und Fernwärme. Eon-Hanse, das sich Hein Gas einverleibt hatte, betreibt seitdem fortan das Gasnetz.
Allem politisch-volkswirtschaftlichen Pragmatismus zum Trotz steht hinter der jetzt aktuellen Frage nach dem vollständigen Rückkauf der Energienetze mehr als nur eine simple Sachentscheidung. Der von einem Bündnis aus etwa 40 Verbänden und Organisationen durchgesetzte Volksentscheid spiegelt die Grundsatzfrage, inwieweit Marktwirtschaft im Widerspruch zu öffentlichen Leistungen der Daseinsvorsorge steht. Und ist somit ebenso Ausdruck der Kritik an den neoliberalen Tendenzen der vorigen Dekade wie die Wiederabschaffung von Studiengebühren.
Denn Volksinitiativen wie „Bildung ist keine Ware“, „Wasser ist keine Ware“ oder der 2004 erfolgreiche Volksentscheid „Gesundheit ist keine Ware“ gegen die Privatisierung der Hamburger Krankenhäuser (der aber real erfolglos blieb, weil CDU-Bürgermeister Ole von Beust die Kliniken trotzdem an den Medizinkonzern Asklepios verkaufte) bilden die Grundlage für den jetzigen Volksentscheid, der die Versorgung aller HamburgerInnen mit Elektrizität und Heizung faktisch zum Grundrecht erheben will. Im Erfolgsfall dürfte das zu zwei weiteren Volksbegehren führen: Über den Rückkauf der einst städtischen Asklepios-Krankenhäuser denkt die Linke bereits laut nach, ein Volksbegehren „Wohnraum ist keine Ware“ steht ebenfalls im Raum.
Seit 2007 haben mehr als 170 Kommunen neue Stadtwerke gegründet, um wieder Einfluss auf die Energieversorgung zu gewinnen, fast 200 Konzessionen wurden von kommunalen Betrieben übernommen, 45 davon in Norddeutschland. Denn die Erwartungen an die Privatisierung hatten sich nicht erfüllt. Die Versorgung wurde selten besser, die Preise indes stiegen rasant. Im Norden liefert sich deshalb die Verbraucherzentrale seit Jahren mit Vattenfall und Eon-Hanse Rechtshändel mit Abmahnungen und Musterprozessen wegen Tarifen und Preiserhöhungen.
Zuallererst aber geht es beim Volksentscheid in Hamburg um zwei Fragen: Wird Energie grüner, wenn die Netze vollständig im Besitz der Stadt sind? Die Initiative sagt ja, der Bürgermeister sagt nein. Und ist der Besitz der Netze ein gutes Geschäft für die Stadt durch hohe und garantierte Renditen oder ein atemberaubend riskantes Spiel mit den Finanzen Hamburgs? Ersteres, sagt die Initiative, Letzteres, sagt der Bürgermeister.
Am 22. September muss der Souverän für sich selbst „Gemeinwohl“ definieren. Und seine Entscheidung treffen.