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Archiv-Artikel

Orte, die einst waren

OSTEN Wie Politik bei den Leuten im Alltag ankommt – eine Reise in alle Himmelsrichtungen. Dritte Station

Die Frau im Geschenkeladen sagt: „Das ist nur ’ne halbe Stadt“, die im Schuhladen: „Das ist ’ne halbtote Stadt“

AUS GUBEN WALTRAUD SCHWAB (TEXT) UND STEPHANIE F. SCHOLZ (ILLUSTRATION)

Wie Guben zu seinem Namen kam? „Dazu gibt’s eine Geschichte“, sagt der scheue, weißhaarige, vor ein paar Tagen fünfzig gewordene Andreas Peter in seinem Antiquariat, in dem noch die Geschenke stehen – Flaschen, Esskörbe, Eingemachtes. Es habe, erzählt er, da einen Marktflecken am Fluss gegeben, wo sich Wege kreuzten und reges Treiben herrschte. Weil jeder eine andere Idee hatte, wie der Ort heißen solle, gab es Streit. Da sagte ein weiser Mann: „Grabt hier an der Stelle, und das erste Ding, das ihr findet, soll der Name sein.“ Sie gruben, fanden einen Knochen und ein Sachse rief: „Nu, een Guhbeen.“ Guben – Kuhbein. So kam’s.

Klar, ein Scherz. Ist aber was Wahres dran, denn die Stadt grast nur, käut wieder, kommt irgendwie nicht vom Fleck, geschlachtet wurde sie auch schon, zweigeteilt. Und schon wieder droht Ungemach. Peter in seinem Laden an der Frankfurter Straße, im kleinen Altstadtzentrum, Geschichtslehrer eigentlich, wartet jedenfalls vergeblich auf reges Treiben. Er hat noch einen Verlag, gibt historische Schriften heraus über damals, als die Stadt reich war, die Tuchherstellung, die Hutfabrik, später in der DDR das Chemiefaserwerk, tausende Menschen in der Produktion. Damals, als Millionen Hüte im Jahr in alle Welt exportiert wurden, damals, als die Stadt ein Theater hatte, nun nur noch Ruine, und Brunnen, plätschernde, als die Stadt mondän war trotz der Provinz.

Das heißt nicht, dass Guben nicht herausgeputzt ist, die Fassaden der Gründerzeithäuser sind restauriert, aber die Teilung nach dem Krieg hat der Stadt das Herz herausgerissen, Guben wurde zur Hälfte polnisch, das historische Stadtzentrum – schwer zerstört – rutschte auf die polnische Seite. Die Neiße wurde zur Grenze, aber dieses Rinnsal lässt keine Weite zu, rüberspucken kann man. Die paar Sekunden, die es braucht, um die Brücke zu überqueren, seit die Grenzen offen sind, taugen für ein Stolpern ins andere Land. Zum Einkaufen, zum Tanken fahren die Deutschen nach Gubin, so heißt die polnische Schwesterstadt. Und die aus Polen fahren zum Arbeiten nach Guben.

Hoffnung

Andreas Peter, dem Wurzeln in Guben gewachsen sind so dick wie die von Bäumen, und der, als er als Lehrer versetzt wurde und zurück wollte in seine Stadt, sich beurlauben ließ und es bis heute ist, führt als Stadtwächter mit schwarzem Mantel und Laterne gelegentlich durch die Straßen und zeigt Orte, die einst waren; wie den im Krieg verschollenen Fischmännchenbrunnen, der, Wunder, in den USA auftauchte. Es gelang, ihn zurück in die Stadt zu holen. Peter, in der Seele ein Dichter, schmiedete Verse zum wiedergefunden Brunnen: „Er will uns dran erinnern, wie schön es einst hier war. … und auch wieder sein kann, wenn wir nur wolln, nicht wahr?!“

Peter ist Melancholiker, daher die Hoffnung. Andere stecken in der Depression. Die Frau an der Frankfurter Straße im Geschenkeladen sagt: „Das ist nur ’ne halbe Stadt.“ Und die Frau im Schuhladen an der Berliner Straße: „Das ist ’ne halbtote Stadt“, noch zwei Jahre, dann zieht sie weg, zieht ihren Kindern hinterher. Nach ihr die Sintflut. Drei junge Männer, Ende zwanzig alle, Smartphones und Zigaretten neben dem Bier, feiern Wiedersehen im Booze’n Juice, der einzigen Kneipe, die halbwegs städtisch ist. „Das ist ’ne tote Stadt“, sagt einer, die anderen nicken. Halb, halbtot, tot – harte Steigerung. Die Bevölkerungszahlen geben ihnen recht: 1939 hatte Guben fast 50.000 Einwohner. 1946 die Hälfte. 1981 lebten, oh sozialistisches Wirtschaftswunder in der Wilhelm-Pieck-Stadt, wie sie da hieß, 36.000 Leute. Heute die Hälfte.

Zwei der drei jungen Männer im Booze’n Juice, deren Muskeln schwer unter den enganliegenden T-Shirts pulsieren, arbeiten in einem Maschinenwerk bei Ulm. Dem einen ist gerade die Freundin abhandengekommen. „Fernbeziehung sechs Jahre, das hält man nicht aus.“ Als Einziger seiner früheren Clique, „zwanzig, dreißig Leute waren das“, lebt der Dritte noch in Guben. Er arbeitet im Kraftwerk Jänschwalde. Das treibt sie um, dass es in der Region kaum Arbeit gibt. Dass sie gehen müssen. Die, die gegangen sind, machen Überstunden in Baden-Württemberg, „sechzig Stunden die Woche“, sparen Geld an, „damit ich ein Polster habe, wenn ich zurückkomme.“ Phantasma der Gastarbeiter: Zurückkommen wollen sie. „Guben und die Natur, die Weite drumherum, das ist so schön.“

Und der Braunkohletagebau, der sich, ginge es nach dem Willen der Landesregierung und des Energiekonzerns Vattenfall, sowohl auf der polnischen als auch der deutschen Seite bis an die Stadt heranfressen soll? Dreißig Quadratkilometer links von Guben, siebzig Quadratkilometer rechts von Guben. Fast hundert Meter tief wird gegraben. Was bleibt dann von der Natur? Ist halt so, ist kein Thema für die drei. „Solange es meinen Arbeitsplatz sichert“, sagt der, der im Kraftwerk arbeitet, „können sie abbaggern, was sie wollen“. Aber so richtig zieht dieser Schlagabtausch – Arbeitsplätze gegen Zerstörung der Landschaft, der Dörfer – auch nicht mehr. Die Unterschriftenliste für den Erhalt des Braunkohletagebaus, die derzeit kursiert, hat er nicht unterschrieben, obwohl vor dem Werkstor gesammelt wurde. „Lasst mich in Ruhe.“

Und was sie sonst umtreibt? Da sagen sie wie aus einem Mund „Grenzkriminalität“, und jeder erzählt seine Geschichte vom gestohlenen Fahrrad, gestohlenen Auto. Alles muss man abschließen. Auf den Dörfern bei Ulm, da schlössen die Leute nicht mal die Häuser zu.

Das mit der Grenzkriminalität, das sagen alle. Und noch etwas erzählt fast jeder: Wie er mit der Großmutter – immer der Großmutter – an die Neiße gegangen ist und sie über den Fluss in die Weite zeigte und sagte: Da drüben, da ist unser Haus. Bis über ihren Tod hinaus ist das Gegenwart: dieser Verlust.

Auch Wilfried Pansow, 1942 geboren, mit hellblauen Augen, identischem Zwillingsbruder und einem Zwetschgenbaum im Schrebergarten, hat etwas verloren – nach der Wiedervereinigung. Er war Direktor von Getränkekombinaten in der DDR, in der Bundesrepublik hätte man ihn Konzerndirektor genannt. Er hat, erzählt er, aus „Minusbetrieben Plusbetriebe gemacht“. Mehrere hundert Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unterstanden ihm. „Wir mussten die Versorgung sichern.“ Er hat eine konkurrenzfähige Getränkefabrik aufgebaut. Aber nach der Wende wurde sie an Coca-Cola verkauft und zerschlagen, die Westunternehmen wollten keine Ostkonkurrenz. Pansow wurde „freigestellt“, musste sich als Vertreter, als Jobber, als Selbständiger bis zur Rente durchschlagen. „Ich wollte demokratischen Sozialismus“, sagt er.

Seine Rente ist mager, sein Misstrauen kapitalistischen Konzernen gegenüber groß. Er wohnt in Deulowitz, einem Gubener Stadtteil, zur Miete. Würde der geplante Braunkohletagebau kommen, wohnte er direkt an der Tagebaukante. Dahinter wäre totes Land. „Ich bin nicht einverstanden“, sagt er, setzt sich aufgeregt ins Auto, einen violetten Ford, fährt kilometerweit über die Dörfer hinter Deulowitz, die verschwinden werden, zeigt die Wälder, „weg“, die Brücken, die Bäume, „weg“, die Felder, die Hügel, die Seen, die Häuser, „alles weg“, zeigt alles auch auf der polnischen Seite, wo die Orte zeitlos wirken, zeigt von der Aussichtsplattform, welche Verwüstungen der bestehende Braunkohletagebau anrichtet. „Da drüben, da war Horno“ – das erste Dorf, in dem sich Bewohner in aller Öffentlichkeit wehrten. Vergeblich. Fahrradtouristen aus Bayern stehen auch oben auf der Plattform: „Grauenhaft“, sagt der Mann, schüttelt den Kopf, „das Brutalste, was ich seit Jahren gesehen habe.“ Soweit man sehen kann, nur aufgewühlte Erde – für viele, viele Jahrzehnte.

Depression

Nicht nur Pansow ist dagegen, die Zweifel an der Notwendigkeit haben in Guben zugenommen. „Die Risse kommen näher“, sagen Leute auf der Straße. Wenn die Risse kommen, wegen der Grundwasserabsenkung etwa, kommen die Probleme. Wer zahlt? Deshalb zieht der Satz „die werden doch entschädigt“ auch nicht mehr so richtig. Und die innerliche Devastierung ist sowieso nicht in Geld zu messen: Mathias Berndt, der Pfarrer aus Atterwasch, einem der Dörfer bei Guben, die verschwinden sollen, erzählt, dass er Leute in der Gemeinde hatte, die wurden im Krieg vertrieben, dann bei früheren Tagebauen umgesiedelt, jetzt sollten sie ein drittes Mal Haus und Hof verlieren. Mittlerweile sind sie tot. „Die Bedrohung macht mürbe.“ Selbst die CDU-Landtagsabgeordnete Monika Schulz-Höpfner, die aus der Region kommt, ist dagegen. Neue Tagebaue werden nicht gebraucht. Ihre Meinung passt der CDU, vor allem auch der SPD, die es bisher versäumten, Alternativen zum Tagebau zu entwickeln, nicht. „Das hier ist ein letztes Aufbäumen.“ Die Leute in Guben kapierten so nach und nach, dass sie zur Insel werden, wenn die Tagebaue kommen. Dann sei die Lebensqualität weg.

Andreas Peter mit seinem Buchladen auf der Frankfurter Straße sagt das auch. „Langsam kapieren es die Leute, ganz langsam.“ Ulrike Held, im Laden nicht weit von Peter, aber sagt zum Tagebau, „wir können es nicht ändern“, und gleich danach: „Es muss sich was ändern.“ Weil sich was ändern muss, hat die junge Ernährungswissenschaftlerin es angepackt und vor drei Wochen auf der Frankfurter Straße ein Naturkostgeschäft eröffnet. Leer stehende Läden gab es genug. „Es kann nicht sein, dass alle jungen Leute gehen“, sagt sie. Hundert waren sie in ihrem Abiturjahrgang. Höchstens zehn sind noch da. Sie will, dass man bleiben kann. Wenn sie es kann, können’s auch andere.

Sie wissen es nur noch nicht.

Halt, stop, das kann nicht das Ende sein.

Andreas Peter taucht noch einmal auf, mit einem Glas selbstgerührtem Gelee in der Hand und einem Stadtgedicht über den Aprikosenbaum im Klostergarten dazu. „Damit Sie mich in guter Erinnerung behalten“, sagt er. Auch Pansow, der noch einmal ins Auto steigt und die Neustadt von Guben zeigt, die Plattenbausiedlung, das Pieck-Denkmal, den Gedenkstein für Farid Guendoul, der hier 1999 zu Tode gehetzt wurde, verschenkt ein Glas Marmelade. „Damit Sie etwas Süßes haben.“ Und er hat noch etwas aufgetrieben: einen Gubener Apfel, den Warraschke – rot-grün, sauer, gut für Most. Das Besondere aber: Er ist resistent gegen Maden.