Selbstbetrug der Mittelschicht

taz salon: Lesung mit Ulrike Herrmann

Als Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) von „spätrömischer Dekadenz“ sprach, meinte er nicht etwa jene zehn Prozent der Bevölkerung, die 61 Prozent des Volksvermögens besitzen und 34 Prozent aller Einkünfte erzielen; häufig ohne dafür zu arbeiten. Er meinte die Arbeitslosen, die von Staat angeblich so gut alimentiert werden, dass sie keinen Anreiz mehr verspüren, zu arbeiten. Dass er auch allgemein so verstanden wurde, liegt an einer „fatalen Allianz“, wie taz-Redakteurin Ulrike Herrmann in ihrem neuen Buch „Der Sebstbetrug der Mittelschicht“ schreibt: Die Mittelschicht wähne sich an der Seite der Elite, weil sie meine, dass man gemeinsam von perfiden Armen ausgebeutet werde.

Deshalb trifft die Mittelschicht, die in Deutschland immer noch das Gros der Wählerstimmen auf die Waage bringt, permanent Wahlentscheidungen, die sie selbst benachteiligen: Die wachsenden Kosten der sozialen Sicherungssysteme bürdet sie immer wieder sich selbst auf, statt die Oberschicht angemessen daran zu beteiligen, wie Herrmann in ihrem Buch nachweist. Die Folge: Die Reichen werden wirklich immer reicher, und die Mittelschicht verliert nicht nur in der Krise, sondern auch im Boom. Ihren Frust darüber lässt sie an den vermeintlich faulen Armen aus.

Einer, der diesen Mechanismus gründlich satt hat, wird heute Abend im taz salon mit Herrmann diskutieren: Der Emder Gunther Clemens, selbst erwerbslos, hat Westerwelle angezeigt, weil er sich von dessen Tiraden persönlich beleidigt fühlt. Die Runde komplett macht schließlich der Berliner Psychiater Dieter Lehmkuhl, der einerseits zwar durch sein Erbe zur Oberschicht gehört, sich andererseits in der Initiative Vermögensabgabe für eine gerechtere Verteilung einsetzt.  (taz)

Lesung und Diskussion: 20 Uhr, Kulturhaus 73, Schulterblatt 73