„Willfährige Metze Mammons“

In der Tat, wo bliebe das Gefühl der Buße ohne die städtischen Bettler? Sie reden schon viel, aber noch mehr denken wir uns aus, was sie höflicherweise verschweigen. Eine kurze Begegnung und ihre langwierigen Folgen

Vor Karstadt steht ein junges Paar. Während sie mit beiden Händen stumm die Jackentaschen ausbeult, bettelt er mich an: seine Freundin sei schwanger.

Heißt das, sie brauchen jetzt Geld für die Abtreibung?

Er durchkreuzt meine Vermutung: Sie haben kein Geld mehr, und wollen deshalb Verwandte in Polen anrufen, wofür sie wiederum Geld benötigen, blabla, schrummdibumm, und seine Freundin muss unbedingt was essen, weil sie doch schwanger ist – wie zur Bekräftigung beult das dürre Huhn seine Taschen noch weiter aus – da, zeigt er auf den Chinaimbiss nebenan, das kostet drei Euro, und deshalb …

Was soll der Scheiß? Ich bin genervt, wegen dieses unsinnig komplizierten und zugleich viel zu durchschaubaren Plots – Drehbuchkurs Volkshochschule, erstes Semester. Um mir die Flucht zu erleichtern, gebe ich ihm einen Euro.

Huhn mit Nudeln kostet aber drei Euro, sagt er frech.

Ich bin noch genervter: Sind die Bettler neuerdings alle verrückt geworden? Zum einen extrem unhöflich, erfinden sie zum anderen bloß noch die haarsträubendsten Geschichten. Kaum eine Bettelei geht heute noch schnell und unbürokratisch vonstatten. Statt dessen leiert jeder ein 800-seitiges Märchenbuch runter – holperig, voller Brüche in der Logik, aber Hauptsache lang, lang, lang: Er, der Bettler, entstamme eigentlich einem fernen Königsgeschlecht, sei auf der Suche nach der Prinzessin (natürlich schwanger) von einem Kobold namens Hammermüller gegen den eigenen Willen in eine Zeitmaschine gestopft und auf dem Hermannplatz wieder ausgespuckt worden. Hier sei man dann durch harte und ehrliche Arbeit zu Geld gekommen, doch leider, leider dann plötzlich von einer garstigen Hexe in einen armen Polen/Motz-Verkäufer/Punker verwandelt und schließlich auf der Suche nach einem geeigneten Anwalt nachts im Park von einem bösen Wolf angefallen worden, der einem auch noch das letzte Geld aus der Tasche riss.

Dabei ist mir doch völlig egal, wofür die das Geld verwenden. Das geht mich ohnehin nicht das Geringste an. Bloß höflich sollte er sein: „Bitte, danke, guten Tag. Ich bin nicht bereit, mich dem Diktat zur Lohnarbeit zu unterwerfen, und nehme dafür bewusst erhebliche Unannehmlichkeiten in Kauf, wie Kälte, Obdachlosigkeit, mangelnde medizinische Versorgung und, nicht zu vergessen, die Demütigungen, die mir Situationen wie diese bereiten: Sie sehen ja, welche Überwindung es mich gerade kostet, einen hörigen und korrupten Opportunisten, der dieses asoziale System, nur für den Judaslohn der eigenen Bequemlichkeit und trügerischen individuellen Sicherheit feige funktionierend, in Brief und Siegel setzt, und so, willfährige Metze Mammons, schon mehr aktiv denn fahrlässig weiter am Rad der Ausbeutung dreht, in das er doch eigentlich selbst geflochten liegt, also so einen, ich sag’s mal kurz, Arsch, anzubetteln und dabei auch noch höflich zu bleiben: Bitte, danke, guten Tag. Sie sehen sicher ein, dass es Sie da geradezu zwangsläufig einen geringen Obolus kosten muss, verzichte ich doch nicht zuletzt zu Ihren Gunsten freiwillig auf so eine unterbezahlte Fronarbeit und vergrößere somit Ihre Chancen auf eine solche, die Sie ja unbedingt haben wollen, in Ihrer kurzsichtigen politischen Indifferenziertheit. ‚Pfui Teufel‘, müsste ich eigentlich sagen, aber stattdessen sage ich: ‚Bitte, danke, guten Tag.‘ Das sollte Ihnen schon einen Euro wert sein – erstens, um kraft dieses billigen Kompensationsgeschäftes Ihr bräsiges Gewissen zu beruhigen, und zweitens, um mir nur einen Bruchteil der Annehmlichkeiten zu ermöglichen, die Sie hier unverdient und nicht zuletzt durch mein passives Zutun genießen und die schließlich auch mir als Mitmensch zustehen. Sei es in Form von Alkohol oder Drogen – irgendwie muss ich ja verdrängen, was hier für subalterne Charakterwracks rumlaufen –, und wofür ich mein Geld verwende, geht sowieso niemanden etwas an, zuallerletzt Sie. Bitte, danke, guten Tag!“

Also, wenn schon eine ausführliche Begründung, dann würde ich gerne so eine hören. Noch lieber wäre mir allerdings das gute alte „haste mal nen Euro?“. ULI HANNEMANN