piwik no script img

Archiv-Artikel

Schön aufgegessen

RESTE Was sagt ein zurückgelassener Teller über die Welt, in der wir leben? Der Italiener Simone Casetta hat in einer Mailänder Kantine fotografiert, was angenagt, weggeputzt, verschmäht wird

VON ANJA MAIER (TEXT) UND SIMONE CASETTA (FOTOS)

Drei Tage Regen“, sagte die Oma, wenn die Enkelin nicht aufgegessen hatte. Seufzend trug sie den Teller ab und stellte die Aufschnittreste in den Kühlschrank. Brotkrümel, die das Mäkelkind auf dem weißen Steingut übriggelassen hatte, streute sie „den Vogeln“ vors Küchenfenster.

So hat man es gelernt. Aufessen, schön aufessen, nichts übrig lassen, dann scheint auch die Sonne und die Oma ist zufrieden. Das ist lange her. Heute gehört es in den westlichen Industriestaaten zum guten Ton, auf dem Teller etwas liegenzulassen. Als Zeichen für selbstbestimmtes Essen, für Maßhalten und das Bewusstsein, dass der Cholesterinwert ein Gegner ist, der nicht mit sich handeln lässt.

Der italienische Fotograf Simone Casetta hat sich die Sache mal genauer angesehen. In seiner Heimatstadt Mailand ist der 49-Jährige in einer Kantine von Tisch zu Tisch gegangen und hat die von den Gästen zurückgelassenen Teller fotografiert. Was sagt ein halbleerer Teller über den Menschen im 21. Jahrhundert aus? In Italien, einem Land, wo Essen, gutes Essen ein wichtiger Teil des kulturellen Selbstverständnisses ist?

Da ist der Teller oben links, eine Art Vitaminbombe, die zum Platzen gebracht und sodann achtlos zurückgelassen wurde. Womöglich von einem Gast, der sich für die Völlerei des Wochenendes mit gesunder Rohkost bestrafen wollte. Dem Esser des Tellers rechts daneben scheint es nicht geschmeckt zu haben: ein bisschen im Hühnchen gestochert, sich über die Kollegen geärgert, dann doch lieber auf einen caffè in die Bar an der Ecke gegangen. Schön aufgegessen wurde der Teller rechts in der Mitte, der Gast hat sogar das Besteck in eine ansprechende Position zum verschmähten Zucchinigemüse gebracht. Protest vermittelt der Teller unten rechts: die Serviette zerknüllt, das Messer wie eine Sperre drapiert.

Casetta hat 91 dieser Teller fotografiert. Er hat sie alle festgehalten: leere, halbleere, volle. Kalte Pommes auf dem ersten, zwei sauber abgenagte Aprikosenkerne auf Bohnengemüse auf dem letzten Foto. Schön anzusehen sind sie alle, in ihrer zufälligen Ästhetik. Weil jeder Teller eine Geschichte hat, die der Betrachter aber nicht kennt. Viel Platz für Vorstellungen, auch viel Zeit zum Nachdenken darüber, warum wir in einer Welt leben dürfen, in der sowas möglich ist.