: „Das war schon sehr belastend“
SCHWARZFAHREN ODER VÖLKERMORD Die Hamburger Richterin Nora Karsten arbeitete drei Jahre lang beim Jugoslawien-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Dass es am Ende gelang, die Täter zu verurteilen, sei eine Genugtuung gewesen, sagt sie
39, Juristin, war von 2006 bis 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Jugoslawien-Tribunal in Den Haag. Sie hat sich im Studium und besonders in ihrer Doktorarbeit mit dem Völkerstrafrecht beschäftigt. Heute ist sie Strafrichterin am Hamburger Amtsgericht St. Georg.
INTERVIEW DANIEL KUMMETZ
taz: Frau Karsten, Sie haben sich beim Jugoslawien-Tribunal in Den Haag mit Völkermord beschäftigt. Was genau war Ihre Aufgabe?
Nora Karsten: Ich habe als juristische Mitarbeiterin in den Kammern gearbeitet, ich habe die Richter bei ihrer Tätigkeit unterstützt. Da die Fälle so groß sind, gab es für jeden Fall, an dem in der ersten Instanz drei Richter arbeiten, ein ganzes Team von juristischen Mitarbeitern. Die Arbeitsweise am Tribunal ist ganz anders als an einem Amtsgericht. Dort sind die Fälle riesengroß, mit oft mehr als 100 Zeugen und mehr als 1.000 Beweisstücken. Die Verfahren laufen ein Jahr, viele Fälle sogar mehrere Jahre. Das liegt daran, dass die Vorwürfe so umfassend sind.
Was hatten Sie konkret zu tun?
Wir Mitarbeiter haben den Richtern zugearbeitet, saßen mit im Gerichtssaal, haben die Zeugenaussagen mit aufgenommen und zusammengefasst und Beschlüsse vorbereitet. Da gibt es ja viel zu klären, von Zeugenschutzmaßnahmen bis Zulassung von Beweismitteln. Am Ende haben wir die Urteile vorbereitet. Die Urteile sind, so stand es mal in einer Zeitung, wie Dissertationen. Da gibt es Urteile, die umfassen mehrere Bände und sind bis zu 1.000 Seiten lang. Und um so etwas zu erstellen, bedarf es eines Stabes von juristischen Mitarbeitern, die den Richtern mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Wie viele Prozesse haben Sie begleitet?
Ich war dreieinhalb Jahre in Den Haag und habe in drei großen Fällen mitgearbeitet.
Kennt man die Fälle?
Ich habe an einem Fall mitgearbeitet, bei dem es um die Belagerung Sarajevos ging, dem Verfahren gegen den in den Jahren 1994 und 1995 verantwortlichen General Dragomir Milošević. Dort war die Terrorisierung der Bevölkerung durch Heckenschützen und Granatbeschuss auf Wohngebiete Gegenstand. Der erste Fall, in den ich richtig mit eingestiegen bin, ist der Fall gegen Momčilo Krajišnik, der galt als Vertrauter von Radovan Karadžić, dem damaligen Präsidenten der bosnischen Serben. Krajišnik gehörte zu seiner Führungsriege und wurde für ethnische Säuberungen in Bosnien verantwortlich gemacht. Der dritte Fall war ganz anders gelagert.
Wie?
Es ging um Führer einer paramilitärischen Einheit an der Grenze zwischen Serbien und Bosnien, Lukić und Lukić – zwei Cousins. Es war für mich das einzige Mal, dass die unmittelbaren Täter vor Gericht standen. Das waren diejenigen, die selbst gemordet, vergewaltigt und vertrieben haben.
Wie erging es Ihnen, als in den Verfahren Opfer von Mord, Vergewaltigung und Vertreibung ausgesagt haben?
Das war teilweise schon sehr belastend. Gerade wenn die Opferzeugen von ihrem Leid berichtet haben. Da standen uns die Tränen in den Augen, aber so ist das in einem Gerichtsverfahren: Da müssen die harten Dinge zur Sprache kommen und ausgesprochen werden. Das ist den Opfern teilweise sehr schwer gefallen, sie haben das aber gut gemeistert.
Sie haben sich auf Völkerstrafrecht spezialisiert. Können Sie sich vorstellen, Kriegsverbrecher zu verteidigen?
Ich bin nicht ohne Grund Richterin geworden. Vom Typ her liegt es mir eher, die Richtertätigkeit auszuüben, als nur eine Seite dem Gericht zu präsentieren – sei es für die Verteidigung oder, jedenfalls nach anglo-amerikanischem Verständnis, die Staatsanwaltschaft.
Kann man sagen, dass es juristisch spannend ist, einen Kriegsverbrecher zu verteidigen?
Es haben sich genug Verteidiger gefunden, die das spannend finden. Während es am Anfang noch relativ viele Strafverteidiger aus der Region waren, hat sich das jetzt sehr professionalisiert. Es sind viele Star-Juristen, die auch international tätig sind, in diesen Verfahren involviert. Im Karadžić-Fall ist es ja sehr interessant, dass er sich vor Gericht selbst verteidigt, aber im Hintergrund ein großes Team an Verteidigern hat, das über die ganze Welt verstreut ist. Aber ich bin Richterin und ich bin das gerne.
Wie sind Sie zum Völkerstrafrecht gekommen?
Das begann bereits im Studium: Das Völkerstrafrecht ist spannend, weil es ein sehr junges Rechtsgebiet ist. Noch vor 20 Jahren war das Völkerstrafrecht in den Kinderschuhen. In den Entscheidungen des Jugoslawien-Tribunals sind die rechtlichen Voraussetzungen für völkerstrafrechtliche Verbrechen wie Völkermord und für die individuelle Strafbarkeit herausgearbeitet worden. Jetzt ist man sich einig, dass Vergewaltigung beispielsweise zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählt. Auch wurde ein Prozessrecht für internationale Strafverfahren geschaffen. Am Jugoslawien-Tribunal haben wir ständig Neuland betreten.
Wird man zynisch bei solchen Abgrenzungsfragen?
Nein, zynisch ist keiner geworden. Die Gefahr gab es am Jugoslawien-Tribunal nicht, weil man viel zu nah dran ist. Man hat täglich im Gerichtssaal Opferzeugen, die einem das Ganze wieder vor Augen führen, sodass die Texte und Zahlen, die man vielleicht am Schreibtisch bearbeitet hat, wieder lebendig werden.
Was hat Sie am meisten bewegt bei dem Job?
Dass es wirklich gelungen ist, mit einem internationalen Strafgerichtshof das Ende der Straflosigkeit für solche Taten einzuleiten. Es hat geklappt, die Täter strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, ihnen hieb- und stichfest Schuld nachzuweisen und sie dann schließlich auch zu verurteilen. Das ist schon eine Genugtuung.
Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wurde vom UN-Sicherheitsrat im Mai 1993 eingerichtet.
■ Seine Aufgabe: Schwere Verbrechen aburteilen, die in den Kriegen in Jugoslawien seit 1991 begangen wurden.
■ Im Moment laufen noch elf Prozesse vor dem Gericht, darunter sieben Berufungsverfahren.
■ Seit 1. Juli arbeitet die erheblich kleinere Nachfolgeinstitution des Gerichts, der sogenannte Residualmechanismus. Er wird den Strafgerichtshof ersetzen, wenn die laufenden Verfahren abgeschlossen sind.
■ Auf der Website können die Verhandlungen im Livestream verfolgt werden: www.icty.org.
Das klingt alles sehr euphorisch. Gibt es etwas, was Sie kritisch sehen?
Man kann nicht ausblenden, was das Tribunal nicht geschafft hat. Man konnte nicht alle Täter zur Verantwortung ziehen, sondern nur die Haupttäter. Zudem musste man sich auf Hauptanklagepunkte beschränken. Beim Fall Lukić und Lukić war es hart, dass die Vergewaltigungsvorwürfe aus verschiedenen, auch formalen Gründen, nicht Gegenstand des Verfahrens waren und daher nicht geahndet werden konnten.
Wie sehen Sie andere Möglichkeiten, Kriegsverbrechen aufzuarbeiten, etwa Wahrheitskommissionen?
Kriegsverbrechertribunale sind keine Lösung für alle Probleme. Man darf sie nicht überfrachten. Man hat dem Jugoslawien-Tribunal aufgetragen, dass es nicht nur Recht sprechen und die Täter zur Verantwortung ziehen, sondern auch die Region befrieden und den Opfern Genugtuung schaffen soll. Man kann hoffen, dass solche Tribunale eine abschreckende Wirkung haben.
Dass es ergänzende Maßnahmen geben muss, um eine Gesellschaft nach einem Krieg wieder zu befrieden, das ist klar. Da können auch Wahrheitskommissionen einen wunderbaren Beitrag leisten. Aber trotzdem bin ich der Überzeugung, dass es keinen Frieden ohne Gerechtigkeit gibt, und deshalb darf man verschiedene Formen der Vergangenheitsbewältigung nicht gegeneinander ausspielen.
Sie sind nach drei Jahren wieder weggegangen aus Den Haag. Warum?
Das Tribunal hat nur einen begrenzten Auftrag, es ist nur ein sogenanntes Ad-hoc-Tribunal. Es war klar, das ist kein ständiger Arbeitgeber, für den man immer arbeiten kann. Ich habe auch Lust gehabt, selbst Richterin zu sein und Fälle in Eigenregie durchzuführen.
Sie sind jetzt Richterin an einem Amtsgericht. Wie war die Umstellung für Sie?
Der Übergang war eine Herausforderung. Das lag daran, dass ich zunächst als Zivilrichterin tätig war, also: von Völkerrechtsverbrechen zu Handyverträgen, Verkehrsunfällen und schlechten Malerarbeiten. Nun bin ich wieder im Strafrecht und da bin ich jetzt genau richtig.