Heimat am Haken

Ohne Umschweife entführt „Blutiges Heimat“ in einen hermetisch geschlossenen Mikrokosmus aus emotionaler Erstarrung und Gewalt auf dem Land. Das Stück der jungen Autorin Juliane Kann wurde im Gorki-Studio uraufgeführt

Um es gleich vorwegzunehmen: Vegetarier werden an Juliane Kanns Stück „Blutiges Heimat“, uraufgeführt im Studio des Gorki-Theaters, ebenso wenig Freude haben wie die Spiralblock-Fraktion der deutschen Theaterkritik. Schon in der ersten Szene des Stückes macht die erst 24-jährige Autorin den Zuschauern unmissverständlich klar, was sie in den nächsten anderthalb Stunden erwartet: mehrere Kilo rohes Fleisch, spritzendes Blut und verbale Obszönitäten.

Ohne Umschweife entführt Kann das angewidert-faszinierte Publikum in einen hermetisch geschlossenen Mikrokosmos aus emotionaler Erstarrung, sozialer Verrohung und sexueller Gewalt. Die junge Autorin – selbst in einem mecklenburgischen Dorf aufgewachsen – räumt gründlich auf mit dem Mythos des idyllischen Lebens auf dem Lande. Von friedlichem Miteinander, nachbarschaftlichem Zusammenhalt oder gar freundschaftlicher Verbundenheit keine Spur. Kanns Dorfgemeinschaft ist ein Ort ohne Liebe.

Unter Berufung auf die bürgerliche Moral wird hier so lange gelogen, betrogen, verleumdet und gehetzt, bis ein Mord geschieht. Ab dann ist nichts mehr, wie es einmal war. Die in der Vergangenheit mühsam unter Kontrolle gehaltenen Aggressionen entladen sich in einem kollektiven Akt der Gewalt gegen alle, die es wagen, gegen die tradierten Konventionen aufzubegehren.

Thematisch in bester Jelinek’scher Tradition stehend, zeichnet Juliane Kann das Bild einer dörflichen Zwangsgemeinschaft, in der Frauen allzeit verfügbare Sexualobjekte und Gebärmaschinen sind und sich in dieser Rolle auch noch ganz wohl zu fühlen scheinen. Weibliche Solidarität besteht in erster Linie darin, eine vermeintliche Nebenbuhlerin ohne jeglichen Skrupel ans Messer zu liefern, um den eigenen Platz in der Gemeinschaft nicht zu gefährden. Die Männer wiederum sind sexsüchtige Bestien, gewohnt, sich das, was sie wollen, mit Gewalt zu nehmen.

Der einzige Hoffnungsschimmer in einem ansonsten durch und durch von Hoffnungslosigkeit bestimmten Stück ist die von Gunnar Blume und Julia Philippi virtuos gespielte aufkeimende Liebesbeziehung zwischen dem geistig zurückgebliebenen Stephan und der eigenwilligen Katja. Überflüssig zu sagen, dass die kindlich-unschuldige Liebe der beiden gegensätzlichen Außenseiter den hinterhältigen Intrigen der weiblichen und den brutalen sexuellen Übergriffen der männlichen Dorfbewohner zum Opfer fällt.

Auch wenn in „Blutiges Heimat“ am laufenden Band gebrüllt, geprügelt, misshandelt, vergewaltigt und gemordet wird, ist Juliane Kann alles andere als eine Vertreterin des zeitgenössischen Blut-, Schweiß- und Hoden-Theaters. Kanns von Susanne Chrudina wortgenau in Szene gesetzte Gewaltexzesse sind nicht etwa billige Provokation oder ästhetischer Selbstzweck, sondern ebenso bewusst gewählte dramaturgische Mittel wie die eigens für „Blutiges Heimat“ geschaffene Kunstsprache.

So archaisch und fremd Sprache und Lebenswelt der Dorfgemeinschaft auf den ersten Blick auch anmuten mögen, so aktuell ist das Thema, das dem verstörenden Erstlingswerk zugrunde liegt. Quasi im Vorübergehen versetzt Kann all jenen den künstlerischen Gnadenschuss, die Heimat und Familie in den aktuellen Debatten inner- und außerhalb der Feuilletons als letzte Schutz- und Trutzburgen gegen die Herausforderungen der Globalisierung in Stellung bringen wollen. „Heimat“, so möchte man den Propagandisten eines neuen kollektiven Rückzugs in die ach so heile Welt von Dorf und Familie mit den Worten des Schriftstellers Franz Dobler zurufen, „Heimat ist dort, wo man sich aufhängt.“

ARIANE MOHL

Nächste Vorstellungen: 11., 17., 22. und 27. April, 20 Uhr, Gorki-Studio