: Probesitzen im Knast
AUS GELDERN NADINE FRENTHOFF
Noch reißt Jan die Klappe auf. Steht obercool in seinem knielangen Parka vor der Tür zur JVA Geldern und wirft mit voller Wucht einen Tennisball gegen die graue Gefängnismauer. Als Heinz Nielen aus der Tür kommt, grinst er frech: „Hatte leider noch keine Zeit, die Mauer zu sprengen.“ Der Sozialpädagoge geht kommentarlos über Jans Bemerkung hinweg, schaut die vier Jungs an, die vor der Tür warten und wendet sich an deren Betreuerinnen: „Und? Wen schicken wir in die Kammer?“
Der strohblonde Jan (15), Christian (19) mit dem braunen Wuschelkopf, der dunkelhaarige Dennis (15) und der aschblonde Patrick (15) – alle sehen sie harmlos aus, doch sie haben schon ordentlich was auf dem Kerbholz: Diebstahl, Schlägereien, Sachbeschädigung. Der Besuch in der JVA soll die Jungs aus Meppen, die durchweg aus verkorksten Familien kommen, damit konfrontieren, wo sie enden, wenn sie so weitermachen wie bisher.
Abschreckung als Programm. Entwickelt wurde das Konzept von einer Gruppe von Gefangenen, genutzt wird es von sozialpädagogischen Einrichtungen wie der Gesellschaft für familienorientierte Sozialpädagogik in Meppen – die Jan, Christian, Dennis und Patrick geschickt hat – sowie von Jugendgerichtshilfen und Richtern, die es jungen Straffälligen aufbrummen. „Ich kenne in der Region nichts Vergleichbares“, sagt Nielen. „Unsere Teilnehmer kommen sogar aus Niedersachsen.“ 150 waren es im letzten Jahr. Die Jugendgerichtshilfe Düsseldorf stellte fest, dass mehr als jeder zweite ihrer Teilnehmer nicht rückfällig wurde.
„Die Konfrontation mit dem Knast soll die Jugendlichen aufrütteln, sie ein bisschen erschrecken und ihnen klar machen, dass sie jetzt noch eine Chance haben, ihr Leben zu ändern“, erläutert Heinz Nielen. Ein Teilnehmer sei sogar ein zweites Mal mit in die JVA Geldern gekommen. Nicht etwa, weil er den Besuch dort erneut aufgebrummt bekommen hatte, sondern „um sich bei den Gefangenen zu bedanken, dass sie ihm die Augen geöffnet haben“.
So weit sind die vier Jungs aus Meppen noch nicht. Für sie fängt die Konfrontation erst an. Das allerdings gleich hinter der Pforte, wo sie alles zurücklassen müssen: Handy, Zigaretten, Geld. Als ein Justizvollzugsbeamter jeden Einzelnen abtastet und sie ihre Schuhe ausziehen müssen, ist die Stimmung weit weniger ausgelassen als noch vor der Tür. Vor allem Patrick schaut sorgenvoll. Ihn haben die beiden Betreuerinnen ausgesucht: Er muss in die Kammer. Was auch immer das sein mag. Patrick bemüht sich, locker zu sein. Nur keine Blöße. Seine Miene verdüstert sich allerdings, als ein Beamter ihn zu sich ruft: „Na, dann komm mal mit!“
Die Kammer ist ein karger, gefliester Raum mit Waschmaschinen, einem Tresen und Regalen voller Kleidung. Hier gibt‘s für Neuankömmlinge im Knast kostenlos eine blaue Hose, ein blaues T-Shirt und einen blauen Pulli. Anstaltskleidung. Doch das hat Patrick offensichtlich keiner erklärt. „Welche Schuhgröße?“, fragt ihn der Beamte hinter dem Tresen. Patrick nuschelt was von 43, und wenig später reicht ihm der Beamte ein Paar schwarze Schuhe. Unterhosengröße? „Weiß nicht.“ Der Beamte mustert den schmal gebauten Jungen und schiebt ihm dann ein blaues Bündel über die Theke. „Anziehen.“ – „Nee, das möchte ich nicht.“ – „Wenn du in den Knast kommst, musst du Anstaltskleidung tragen.“ Doch es hilft kein Zureden, kein Schimpfen, kein Aufklären. „Wenn du mal wirklich hier landest, sind wir nicht so kulant“, brummt einer der Beamten. „Wer sich nicht freiwillig umzieht, der wird umgezogen.“
Keine drei Minuten später steht Patrick in einem dunklen Flur – in Jeans und Kapuzenpulli. Sozialpädagoge Nielen schließt eine Zellentür auf. „So, dann mal hinein mit dir.“ Patrick zögert. Die Zelle wirkt nicht gerade verlockend: knapp zwei mal drei Meter groß, ein Bett, ein Schrank, ein Tisch – und eine Toilette, ohne Sichtschutz. Als Nielen das Gitter und dann die Tür hinter Patrick schließt, steht dieser noch unschlüssig herum.
Die drei anderen haben derweil Andreas, Enrico, Innocent, Jörg, Matthias und Remzi kennen gelernt. Die sechs sitzen wegen Mordes, Geiselnahme, Überfalls und Drogenhandels ein und wollen den Jugendlichen verklickern, warum sie ihre Chance nutzen sollen, nicht im Knast zu landen. Dafür opfern sie jeden zweiten Samstag ihre Freizeit. Der Besucherraum, in dem sie von ihrem eintönigen Tagesablauf, den wenigen Sportmöglichkeiten, den Einkaufslisten und Besuchszeiten erzählen, wirkt deprimierend: Fenster gibt‘s nur in der Decke, ansonsten kommt das Licht aus Neonröhren. „Zweimal im Monat darf für eine Stunde Besuch kommen“, erzählt Matthias gerade. „Dann schließt einer die Zelle auf, und man kann zum Besuch ausrücken.“ Remzi fügt hinzu: „Aber glaubt ja nicht, dass immer einer kommt. Eure Freunde haben euch ruckzuck vergessen, wenn ihr einmal hier drin seid.“ Jan nagt nervös an einem Finger, und auch Christian nestelt fahrig an seinem T-Shirt. Das hatten sie sich anders vorgestellt: irgendwie cooler.
Als die schweren und noch nicht ganz so schweren Jungs Patrick aus seiner Zelle erlösen, bekommt der erst mal einen auf den Deckel. „Wo sind deine Klamotten?“, fährt Remzi ihn an. „Du siehst so privat aus. Wolltest wohl keine Anstaltskleidung anziehen, wie?“ Patrick schießt die Röte ins Gesicht. Wie er sich gefühlt hat, so eingesperrt, wollen alle wissen. „Angenehm war es nicht“, sagt er lahm. Jan aber rutscht heraus: „Hier wird man ja behandelt wie ein Tier.“ – „Siehste“, pariert Knacki Jörg, „deshalb sollt ihr ja auch nachdenken. Für euch ist es noch nicht zu spät.“
Nach dem Mittagessen, Suppe mit Würstchen, sollen die „Nachwuchskriminellen“ erraten, was die Häftlinge verbrochen haben. Dazu haben die Knackis Zeichnungen mit Begriffen verteilt: Mörder, Dieb und Schwarzfahrer, Sexualstraftäter, Zuhälter, Autoknacker. Unschlüssig hält Jan seine Karten in der Hand. „Du bist ein Dieb und Schwarzfahrer“, sagt er zu Remzi, „weil du so freundlich bist.“ Andreas bekommt die Erpresser-Karte: „Du stellst so bohrende Fragen.“ Ein Mörder, da sind sich alle einig, befindet sich in dem Kreis nicht. Dafür sind alle zu nett.
Fehlanzeige. „Ich bin wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes hier“, erklärt Andreas und atmet tief durch. Dann erzählt er seine Geschichte: Normal aufgewachsen, nach der Schule eine Lehre gemacht, an eine Clique von Autoknackern und -verschiebern geraten, Geldtransporter überfallen. Irgendwann gab‘s dann Ärger mit einer Bande aus Osteuropa. „Wir haben uns mit denen getroffen, es gab eine Schießerei, und am Ende waren zwei Leute tot.“
Obwohl Andreas ganz sachlich aus seinem Leben erzählt, ist ihm anzumerken, wie schwer es ihm fällt, darüber zu reden. „Wir sind dann vier oder fünf Jahre nicht geschnappt worden. Leider. Denn in der Zeit habe ich den Bezug zu Recht und Gesetz verloren.“ Als man ihn erwischte, bekam er lebenslänglich. „Aber selbst wenn die Strafe in sechs, sieben Jahren verbüßt ist – ich muss damit leben, dass ich für den Tod von zwei Menschen verantwortlich bin.“
Die Jugendlichen schweigen betreten. Dann erzählt Jörg seine Geschichte: Normale Kindheit, im Bergbau gearbeitet, reich geheiratet. Die Ansprüche wurden immer höher: schicke Autos, teure Klamotten. Was dann kam in Jörgs Leben, liest sich so: Einbruch, Raub, eingebuchtet, offener Vollzug, kein Geld, Post überfallen, anschließend wieder eingebuchtet. Als er raus kam, landete er seinen schlimmsten Coup: Überfall mit Geiselnahme – er wurde geschnappt. „Sie waren alle da: Polizei, SEK, RTL.“ Wenn er seine Strafe 2009 abgesessen hat, kommt die Sicherungsverwahrung. „Meine Mutter ist jetzt 70. Wenn sie mich besucht, weint sie, weil sie weiß, dass ich wohl, wenn sie stirbt, immer noch im Knast bin.“
Jetzt sind die Jungs dran, sollen ihre Geschichten erzählen. Die Gefangenen wollen Parallelen suchen zwischen dem, was sie selbst in der Vergangenheit verbrochen haben, und dem, was die Jungs bis jetzt angestellt haben. Christian windet sich, lässt sich alles aus der Nase ziehen: beim Meister eingebrochen, Chef beklaut, in Holland Drogen gekauft, Prügeleien. Na ja, und dann hat er „eine Erzieherin ein bisschen sanft angefasst, ehrlich, nur geschubst“.
Der „Schubser“ brachte ihm eine Anzeige und ein Anti-Aggressions-Training ein. Weil er das Training geschmissen hat, soll er nun 14 Tage in den Knast. „Aber das war doch eh nur Gelaber“, nuschelt er und rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. Da erwischt ihn der geballte Zorn der Häftlinge. „Nur Gelaber? Hast du dir denn überhaupt schon mal überlegt, warum du aggressiv bist? Eine Frau anzugreifen, das ist ja wohl das Letzte. Du bist nicht aggressiv, du bist gewalttätig.“ Christian wird immer kleiner.
Danach ist Patrick an der Reihe. Auch er ist ein ganz schönes Früchtchen, hat seiner Mutter Unterschriften abgeschwindelt, soll einen Funk-Scanner im Internet angeboten und das Geld aus dem Verkauf eingestrichen, das Gerät aber nie abgeschickt haben. „Sieh‘ an, ein richtiger Betrüger“, sagt Andreas mit gespielter Anerkennung. „Nur weiter so, dann landest du hier schneller, als du denken kannst.“ Enrico hingegen platzt fast vor Wut: „Du bist ja ein richtiges Dreckschwein“, fährt er Patrick an. „Schon mal gehört: Eltern haften für ihre Kinder! Du bringst deine Mutter in den Knast.“
Als die vier Jungs am Ende wieder auf der Straße stehen, ist ihnen die Erleichterung anzusehen. Einzig Christian meint, noch ein wenig länger den Coolen geben zu müssen. Klar, schließlich muss er damit fertig werden, dass er schon bald wieder in den Knast muss. Aber dann für 14 Tage, nicht für fünf Stunden. Jan hingegen ist auffällig still. Ihm ist nicht mehr nach Tennisbälle-gegen-die-Mauer-Donnern. „Das ist echt ganz anders als im Fernsehen“, sagt er nachdenklich. „Und eben, als ich in einer Zelle auf Klo war, da konnten von draußen welche reingucken. Das ist echt ganz schön hart.“