: Nur nicht von Italien lernen
RISIKOLAND Kaum ein OECD-Land schneidet in Sachen Generationengerechtigkeit schlechter ab. Die Gründe liegen im Wahlrecht und einer Herrschaft der Alten
■ Von 50 Millionen Bürgern in Italien, die 18 oder älter sind, dürfen 8 Prozent oder 4,3 Millionen nicht die Senatoren wählen. Das Vertrauensvotum des Senats ist zwingend für jede Regierung. Befürworter des Wahlrechts ab 18 Jahren argumentieren, dass nur so die Interessen junger Menschen eine Stimme bekommen. Hätten die 18- bis 24-Jährigen im Februar dieses Jahres die Senatoren wählen dürfen, so wären die Mehrheitsverhältnisse möglicherweise stabiler.
VON MARCO MOROSINI
Europa ist ungerecht zu seinen Kindern. Eine neue Studie beklagt: Unseren Wohlstand werden die nachkommenden Generationen eines Tages bezahlen müssen – wir berauben unsere Kinder um ihre Chancen. Zu dieser Einschätzung kommt eine aktuelle Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung. „Die Frage der Generationengerechtigkeit gehört wohl zu den komplexesten gesellschaftlichen Problemstellungen überhaupt“, schreiben die Autoren im Vorwort.
Die Studie untersucht, welche Auswirkungen Staatsschulden, ökologischer Fußabdruck, Armut und sozialstaatliche Ausgaben in den OECD-Ländern auf das Zusammenleben von Jung und Alt haben. Ergebnis: Die USA belegen den letzten Platz, einige europäische Staaten schneiden ebenso schlecht ab. Dabei lohnt es sich, Italien näher zu betrachten: In der Untersuchung der Generationengerechtigkeit belegt das Mittelmeerland einen der letzten Ränge.
Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern schneidet Italien etwa bei den Staatsschulden besonders schlecht ab: Während beim Spitzenreiter Estland umgerechnet etwa 6.400 US-Dollar Staatsschulden auf ein Kind kommen, sind es in Italien 308.000 US-Dollar. Auch Deutschland belegt nur einen mittelmäßigen Platz 15 mit etwa 267.000 Dollar Schulden pro Kind. Besonders dramatisch: Auch die Kinderarmut ist in Italien im Vergleich zu den nordeuropäischen Staaten besonders hoch. Lediglich bei dem ökologischen Fußabdruck konnte Italien mit guten Werten punkten.
Im Vergleich zum traurigen Spitzenreiter Dänemark rangiert das Mittelmeerland dabei gemeinsam mit Deutschland auf den oberen Plätzen. Warum schneidet Italien in Sachen Generationengerechtigkeit trotzdem so schlecht ab? Das Land ist ein archaischer Sonderfall: In keinem anderen europäischen Staat ist eine Beteiligung an der Regierungswahl erst ab dem 26. Lebensjahr möglich.
Damit ist der Mittelmeerstaat ein besonders Beispiel für die Gerontokratie – ein Phänomen, das in allen Industriestaaten zunimmt. Gerontokratie bedeutet, dass die Macht im Staat von älteren Menschen beherrscht wird. Dieses in Europa sehr untypische Wahlrecht ist Ursache und gleichzeitig Folge eines Generationenkonflikts. Während die Interessen der Senioren durch Rentnerparteien und -gewerkschaften in Italien stark vertreten werden, haben Jugendliche keine vergleichbare Stimme.
Der Soziologe Marco Albertini stellte fest, dass im Jahr 1977 Menschen im hohen Lebensalter einem überdurchschnittlichen Armutsrisiko ausgesetzt waren. Im Jahr 2004 hingegen lag das Risiko für unter 40-Jährige deutlich über dem von heutigen Rentnern. In den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg konnten viele Menschen ein erhebliches Vermögen ansparen, was sie heute vor Armut im Alter bewahrt.
Die heutige junge Generation darf kaum auf ein solches Vermögen hoffen – ihre Zeit ist geprägt von unterbezahlten und unsicheren Jobs, Arbeitslosigkeit und Rezession. Italien ist eines der Industrieländer mit der niedrigsten Rate an Schulabgängern und Universitätsabsolventen. Entscheidenden Einfluss auf die italienische Politik hat das Wahlrecht ab 25 Jahren.
Nicht zuletzt dadurch wurde bei den letzten Parlamentswahlen die politische Stabilität Italiens weiter geschwächt. Gerade in der tiefsten ökonomischen Depression seit der Gründung Italiens im Jahre 1861 riskiert die drittstärkste Volkswirtschaft der Eurozone eine Implosion – mit verursacht durch die schwierige Regierungsbildung nach den letzten Wahlen.
Das Time Magazin bezeichnete Italien als die „gefährlichste Wirtschaft der Welt“ – sollte Italien langfristig keine stabile Regierung bilden können, könnte das Land zum Systemrisiko für Europa werden. Sieben Jahrzehnte politischer und gesellschaftlicher Gerontokratie haben für Italien untragbare Folgen: Langsame Generationserneuerung und ein Verlust der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit. Viele Menschen im Land fordern deshalb eine Reform des Wahlrechts, das auch jungen Menschen ab 18 Jahren den Gang zur Urne für den Senat erlaubt.
Solange Italien jungen Menschen keinen vollen Zugang zu Wahlen ermöglicht, läuft es Gefahr, sich politisch nicht mehr stabilisieren zu können. Daher darf das Mittelmeerland nicht zum Vorbild für andere europäische Staaten werden.