: Führen, aber nicht kommandieren
DISKUSSION Es mag für Linke skandalös klingen. Aber die deutsche Hegemonie könnte eine Chance für Europa sein
1946 geboren, lehrt politische Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom. Nach seiner Promotion 1969 wechselte Bolaffi mit einem Stipendium Mitte der siebziger Jahre an die Freie Universität Berlin. Von 2007 bis 2011 leitete Angelo Bolaffi das Italienische Kulturinstitut in Berlin.
VON ANGELO BOLAFFI
Deutschland stellt heute ein mögliches Prinzip Hoffnung dar. Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer und der geopolitischen Revolution, die die Weltgeschichte verändert hat, ist die „Deutsche Frage“ wieder aktuell geworden. Dabei hat sie jedoch eine außerordentliche und überraschende Metamorphose erlebt.
Das Modell Deutschland erweist sich im europäischen Vergleich nämlich nicht bloß als das effizienteste unter ökonomischen und Finanzgesichtspunkten, sondern auch als das sozial am wenigsten ungerechte. Als das einzige Modell, das die sozialen und kulturellen Errungenschaften Europas im Zeitalter des „Weltkonflikts“ zu verteidigen weiß. Damit wird es zum unumgänglichen Referenzmodell für ganz Europa. Das wurde im Übrigen auch schon in den Verträgen von Maastricht und Lissabon kenntlich gemacht, eine Tatsache, die immer wieder gern übersehen wird.
Das deutsche Modell stellt so ein permanentes Gravitations- und Stabilitätszentrum dar, dem zum Dank der Alte Kontinent hoffen darf, dem Schicksal der geopolitischen Marginalisierung und des Niedergangs zu entgehen, der schon in seinen Namen (Europa – Abendland) eingeschrieben ist. Die von der deutschen Wiedervereinigung und vom Globalisierungsprozess ausgelöste Veränderung der geostrategischen Bedingungen, die der ersten demokratischen Revolution auf deutschem Boden – der vom November 1989 – folgte, hat radikal die Voraussetzungen und auch die Ziele des Prozesses der europäischen Einheit verändert.
Am 9. Mai 1950 schlug der französische Außenminister Robert Schuman vor, eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl zu schaffen. Das wagemutige Projekt war als Antwort auf die „Blut und Eisen“-Epoche des europäischen Bürgerkriegs entstanden, mit dem Ziel, für immer das Gespenst des Krieges vom Alten Kontinent zu vertreiben. Heute unter den veränderten Bedingungen der globalen Welt ist das Ziel, Europa ökonomisch und strukturell zu einen, um es in die Lage zu versetzen, den Herausforderungen der globalen Welt antworten zu können.
Dies ist die strategische Intuition, die bei allen Unsicherheiten und bedauerlichen Inkongruenzen die Stärke der von der Kanzlerin Merkel während der Jahre der Eurokrise verfolgten Politik bildet, übrigens unter substanzieller Zustimmung aller anderen Parteien mit Ausnahme der Linken. Die Bedrohungen Europas rühren glücklicherweise nicht mehr aus den Albträumen der Vergangenheit her, sondern aus den ökonomischen und demografischen Herausforderungen der Zukunft.
Jener weitsichtige Entwurf, der „nur“ dazu gedacht war, Europa vor sich selbst und vor seiner Vergangenheit, vor seinen jahrhundertealten Konflikten – vorneweg dem zwischen Frankreich und Deutschland – und vor seinen ideologischen Gespenstern zu verteidigen, ist mittlerweile zu einem wahren existenziellen Imperativ geworden. Zu einer vitalen Notwendigkeit, damit Europa hoffen darf, eine Zukunft zu haben. In der Tat stellt die Union die einzige konkrete Möglichkeit dar, die es der europäischen Zivilisation erlaubt, in der globalen Epoche zu überleben. Keine europäische Nation, auch das „große Deutschland“ nicht, kann hoffen, es allein zu schaffen. Es ist deshalb an Deutschland, das die Hauptursache für die historischen Tragödien Europas darstellte, die schwierige und riskante Aufgabe zu übernehmen, Europa dem großen Ziel der politischen, sozialen und ökonomischen Einheit entgegenzuführen, nicht aber zu kommandieren.
Es ist unnütz, polemisch den Gegensatz zwischen einem „deutschen Europa“ und einem „europäischen Deutschland“ zu beschwören oder abstrakt an „moralische Pflichten“ zu kosmopolitischer Solidarität zu appellieren. Heute ist es, um eine berühmte Marx’sche Formulierung aufzugreifen, für den Europäismus an der Zeit, „von der Utopie zur Wissenschaft zu schreiten“ und die materiell treibenden Kräfte zu identifizieren, die Europa den Schub zur Einigung geben können. Dabei sollte auch die „skandalöse“ Hypothese eines Deutschland in Betracht gezogen werden, das nicht mehr ein Problem, sondern vielmehr eine Chance für Europa darstellt. Eines Deutschland, das kulturell und politisch fähig ist, die schwierige und riskante Rolle der Hegemonialmacht im Gramsci’schen Sinne zu übernehmen.
Zu dieser Rolle ist es objektiv durch seine Demografie, durch seine geopolitische Position und durch seine ökonomische Macht verdammt. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg stellte das Ziel der Einigung Europa vor die Aufgabe, über den Schatten seiner Vergangenheit zu springen und sich von der Last einer Geschichte der Kriege und des Hasses zu befreien. Heute gesellt sich hierzu ein weiteres, womöglich noch schwierigeres Ziel: die strukturell stark unterschiedlichen soziökonomischen Systeme einander anzugleichen oder zumindest miteinander kompatibel zu gestalten.
Dabei gilt es zugleich jenen Reichtum zu bewahren, der sich in der Vielfalt der kulturellen Traditionen findet, einer Vielfalt, die das besondere Erbe des „Archipels“ Europa darstellt. Wird das Bedürfnis nach Zukunft den Völkern Europas helfen, kollektiv nicht nur die Erinnerungen neu herauszuarbeiten, sondern auch die strukturellen sozioökonomischen Differenzen zu überwinden?
Womöglich ja – auch wenn skeptischer Pessimismus mehr als geboten scheint im Angesicht der um sich greifenden heftigen Polemiken, die – motiviert von Differenzen in der Wirtschaft und im Finanzsektor – erneut historische Vorurteile und alte Ressentiments wiederbeleben.