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Archiv-Artikel

Poetik der Runtergerocktheit

Chronist eines Lebens, von dem man irgendwann ab 30 nichts mehr wissen will, von dem man aber nicht loskommt: ein Treffen mit Moritz von Uslar anlässlich des Erscheinens seines Romans „Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005“

Der Wertekanon von Uslars Romanheld: Peinlich ist das neue Cool, Salat ist ungesund, Saufen macht klug

VON ANDREAS MERKEL

Auf dem Weg zum Termin am Montagmittag mitten in Mitte plötzlich so ein Münchengefühl. Es ist der erste warme Tag des Jahres, und die Auguststraße könnte auf einmal statt in der Spandauer auch in der Maxvorstadt sein. Moritz von Uslar betritt das Café Bravo in den Kunstwerken, trägt eine rot-weiße Collegefootball-Jacke, Jeans und Nikes und sieht insgesamt besser aus als auf dem Modefoto, das die eigene Freundin natürlich sofort als superstylish durchschaut („Du hast eben keine Ahnung!“) und das den Klappentext von „Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005“ (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 192 Seiten, 19,90 Euro) ziert. So heißt auch der Grund für dieses Treffen, es handelt sich um Uslars Debütroman.

Moritz von Uslar – eigentlich Hans Moritz Walther Freiherr von Uslar-Gleichen, oder auch einfach nur: Uslar – Uslar also schlägt vor, sich zu duzen und im hinteren Winkel des Cafés zu platzieren, wo man sich dann über Eck nur halb gegenübersitzt, aber immer noch nah genug, um zu erkennen, dass er Kontaktlinsen trägt. Wenn Uslar sich konzentriert oder den Faden verliert, kann es vorkommen, dass er kurz schielt. Er ist starker Raucher und hat eine angenehm tiefe Stimme – nichts weiter, nur ein paar dieser Gesprächspartner-Beobachtungen, die Uslar selbst in seinen 100-Fragen-Formaten perfektioniert hat und die man einfach aushalten muss. Uslar halb in der Celebrity-Falle (später wird er das zurückweisen, er sei nur ein „schwitzender Schreiber“). Dann liest er erst mal den mitgebrachten kressreport-Artikel über sich, den kannte er noch gar nicht. Es ärgert ihn, dass Rainald Goetz’ Name dauernd falsch geschrieben wird, und es freut ihn, dass richtig gestellt wird, er sei nicht in Salem, sondern dem „SPD-Gegenmodell“ Birklehof in Hinterzarten auf dem Internat gewesen.

Man plaudert ein wenig über Kinder – Uslar hat mit seiner Freundin Nicolette Krebitz einen zweijährigen Sohn – und das Fahrstuhlfahren beim Spiegel, wo er im Februar angefangen hat. Er macht einen freundlichen, offenen Eindruck und sei es nur deswegen, dass man am Telefon bereits kurz darüber gesprochen hat, wie man den Roman findet.

Denn trotz einiger Schwächen ist „Waldstein oder …“ der große Befreiungsschlag dieses Bücherfrühlings. Das Buch lässt sich lesen wie eine Kur gegen das neue deutsche Erzählwunder um all die großäugigen Geschichtsstreber, Sparkassenberater-Salingers und Vorstadt-Selbys. Während Leute wie Christian Kracht oder Benjamin v. Stuckrad-Barre sich längst elegant nach Asien oder sonst wo abgesetzt haben oder beim Wechsel vom Boulevard ins Internet offensichtlich dem Wahnsinn anheim gefallen sind, könnte Uslar heute der Last Man Standing der Popliteratur sein. Wenn diese nicht schon längst und gerade mal wieder von Freund und Feind zu Tode kategorisiert worden wäre.

Oder vielleicht besser so: Uslar, Jahrgang 1970, ist in unsicheren Zeiten zum Chronist eines Lebens geworden, von dem man irgendwann ab 30 nichts mehr wissen will, nachdem es immer noch das eigene und trotzdem härter geworden ist. Aber nur weil die Leute jetzt lieber Geschichten über Hitler oder Humboldt, über die fiese Kirche und den schlimmen Osten lesen wollen, leiden sie ja weiter unter James Blunts Telekomwerbung, hängen sie weiter arbeitslos im Internet, bekommen sie keine Kinder. Darüber darf hier nachgedacht werden – und gelacht.

Walter Gieseking ist natürlich geklaut und tot. Er galt von 1896 bis 1956 als „Impressionist des Klaviers“, ein begabter Pianist mit typisch angeheideggerter Biografie (unklare Positionierung zu den Nazis, Technikverweigerung, erst spät noch ein paar Aufnahmen von den letzten Touren für die Nachwelt genehmigt), der es nicht unter die vierzehn Großen in Kaisers Klassik geschafft hat, die wiederum im Roman eine Rolle spielen. „Ich brauchte einen Namen, der gut klingt“, erklärt Uslar, „den ich immer wieder hinschreiben kann und der etwas bedeutet, ohne dass er gleich jedem ein Begriff ist.“ Also ist Walter Gieseking dann das fünf Jahre jüngere Alter Ego des Autors geworden, seit „sechs oder sieben Jahren“ mit Ellen von Galgern zusammen und ein erfolgreicher Journalist, der bereits einen Romanvertrag in der Tasche hat, die ersten Raten – Koeppen lässt grüßen – sind bereits überwiesen. Thema? Das Thema ist erst mal kein Thema. Gieseking trennt sich inmitten der landadligen Idylle von Gut Waldstein von der potenziellen Waldstein-Erbin Ellen und geht zurück nach Berlin in sein schwer verhasstes Mitte-Apartment, zurück zum vertrauten Altjugendlichen-Lebensentwurf zwischen sozialem Easy Going und heroisierter Einsamkeit: Beruf, Freunde, Party – es läuft wie auf Autopilot, solange man sich auf die Fremdsteuerung verlässt.

So weit, so banal, so hundertmal schon gehört und noch viel mehr gelesen. Wenn da nicht diese Sprache wäre. Denn Uslar lässt seinen personalen Erzähler Gieseking in einer so anachronistischen wie artifiziellen Jugendsprache der Neunzigerjahre sein Leben erzählen. Dieser Sound kostet zunächst mal Nerven. Uslars Erzählhaltung ist eine des „Was geht noch, wenn eigentlich gar nichts mehr geht“? Also eine des Aufraffens, des Schwungholens, des Sich-noch-mal-Begeisterns und Selber-in-den-Arsch-Tretens. Hochtourig und mit zu vielen Worten wird hier alles riskiert. Mit Coolness hat das nichts zu tun. Eher mit der Gefahr, aus einem ohnehin infantilen Slang in eine Babysprache zu regredieren, die nur noch „bitte, bitte“ betteln und „Aua“ machen kann.

Und wenn dann noch einige schmerzhafte Redundanzen hinzukommen (Volker-Hage-Gedächtnis-Stelle: „Es kamen mit Schlingpflanzen bewachsene, lila-orange angepinselte Hippielokale, in denen man nicht mal Bier getrunken hätte, wenn man dafür Geld bekommen hätte, anstatt, wie sonst üblich, Geld dafür zu bezahlen.“), hätte man dem Buch vor allem ein besseres oder „anstatt, wie sonst üblich“, überhaupt ein Lektorat gewünscht.

So müssen Uslar und der Leser es allein durch- und aushalten. Das eigentliche Wunder von „Waldstein …“ ist dann, dass das geht. Uslar hat diesen Text runtergerockt, bis daraus fast schon so etwas wie eine Poetik der Runtergerocktheit geworden ist. Hier geht es um die Sorte Erkenntnisse, die sich nicht nach wissenschaftlicher Detailanalyse ergeben, sondern die einem nach durchsumpfter Nacht erst in der Zeitlupe des Sonntagnachmittags klar werden, aus der Distanz zu allem, was man schon weiß. (Und dieses Wissen muss ja immer auch ein Trash- und Tratsch-Wissen von unerträglichen Ausmaßen sein; an dieser Stelle sei nur kurz angemerkt, dass Uslar vor diesem Hintergrund natürlich unendlich viel mehr weiß als beispielsweise Kehlmann.)

Das klingt natürlich schwer dionysisch nach Nietzsche für Alkoholiker. Auch Uslars Gieseking versucht die Umwertung aller Werte: Peinlich ist das neue Cool, Salat ist ungesund und Saufen macht klug. Dazu noch die ewige Wiederkehr des Immergleichen in Form wilder Vögelfantasien und ein wenig Amor Fati, Jasagen zum neoliberalen Schicksal, statt immer nur SPD-mäßig rumzujammern.

Uslars Trick ist dann aber, dass er dieses Affirmationstheater dann doch wieder ins Leere laufen lässt: Das Geile ist eben doch unerträglich, wahre Sympathie kann es vielleicht doch nur ironisch gebrochen geben und der alte von Galgern, Giesekings Schwiegervater in spe, bleibt ein Arschloch, mit dem man gut auskommt, solange nicht über Politik geredet wird.

I love this book, wie Oprah Heidenreich sagen würde. Das Gespräch mit Uslar hat sich da längst schon in Einvernehmlichkeit verlaufen: Problem erkannt, Gefahr gebannt. Als versierter, gern kopierter Interviewer (dessen stilbildender Einfluss kaum überschätzt werden kann: Oder es klingt dann gleich wieder wie Gero von Boehm) beherrscht er die hohe Kunst der ausweichenden Antwort natürlich aus dem Effeff. Das heißt auch, dass an den entscheidenden Stellen schon mal ein vertraulicher Hammer kommt, im Wissen, dass man das ohnehin nicht zitieren kann. On the record bleiben dann noch die Probleme mit dem Lektorat: Uslar vertritt die Auffassung, dass in journalistischen Texten um jedes Wort gekämpft werden müsse, während der Prosa-Autor irgendwann loslassen und den Roman für sich stehen lassen müsse – und in seinem Verlag scheint ihm das niemand ausgeredet zu haben. Die Probleme mit dem autobiografischen Schreiben: „Geht ja schon bei den Spiegel-Artikeln los, wenn sich hinterher die Mitarbeiterinnen von Plattenfirmen beschweren.“ Und die Probleme mit der Rezeption, die das Buch haben wird, seit im deutschen Feuilleton wieder Haltungsnoten vergeben werden und Ethik-Debatten über das richtige Leben und Lesen geführt werden.

An dieser Stelle ist Uslar dann einfach nur froh, mit „Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005“ – „ich wollte so einen langen, handkeartigen Titel haben!“ – einen Primärtext vorgelegt zu haben und sich aus all der „Sekundärscheiße“ heraushalten zu können. Eine Zeit lang. Dann geht’s wieder zurück zum Spiegel, wo er sich jetzt ganz bewusst als Redakteur, nicht als Autor habe anstellen lassen, und über den er sich bereits dahingehend äußerte, dass das Magazin eine „Text-Wegwerfmaschine“ sei, die er sich als „Anti-Egozentrik-Programm“ verordnet habe. Das klingt ein wenig nach stalinistischer Selbstkritik. Uslar geht es jedoch darum, wieder ein paar Widerstände zu haben, an denen man sich abarbeiten und wachsen könne, beim SZ-Magazin sei zuletzt alles nur noch durchgewunken worden. Die Sehnsucht danach, seinen Text bis zum Umfallen zu verteidigen, mit nichts als der Kaffeetasse in der Hand zum Dranfesthalten. Die alte Sehnsucht nach einem Gegenüber und Gegner. Ansonsten erst mal keine weiteren Pläne. So müssen Entwicklungsromane 2006 aufhören.