: LUST. Ausgerechnet Folge 22 Kassensturz
WAS BISHER GESCHAH: Leena war 80 Stunden lang in den Fängen DER LUST. Nur schade, dass sie sich an wichtige Details nicht erinnert. Ihre Freundin Nuray hat die Nase voll von den Eskapaden DER LUST.
Ein Großteil des Casino-Gewinns war verschwunden. Die Plastiktüte enthielt noch exakt 8.213 Euro und 46 Cent. Die Tage, an denen DIE LUST ihren Körper kontrolliert hatte, hatten Leena 15.586 Euro und 54 Cent gekostet – Geld, das sie zuvor gar nicht besessen hatte. Es kümmerte Leena nicht. Sie hatte Wichtigeres zu tun. Ihre Füße vom Boden heben und nacheinander voreinander wieder dort abzusetzen zum Beispiel. Es war unfassbar anstrengend.
„Das ist nur ein kleines depressives Tief“, behauptete Nuray, als sie endlich in Leenas Wohnung angekommen waren und Leenas geliebten Melissentee tranken. „Dein Körper hat auf diesem Drogentrip all sein Serotonin verschossen. Das muss jetzt nachproduziert werden – in ein paar Tagen bist du über den Berg.“ Sie nippte an ihrem Tee. Leena seufzte tief. Ein paar Tage in dieser Qualität würden für eine veritable Staubschicht auf ihrem Körper und Gehirn sorgen. Verlockend war anders. Nuray schien ähnliche Gedanken zu haben. „Das muss aufhören, dass DIE LUST dich so schikaniert. Du bist jetzt schon seit Wochen wie ausgewechselt.“
„Du hast gesagt, es gefällt dir, dass ich mich endlich mal locker mache“, erinnerte Leena sie matt.
„Das war, bevor du tagelang verschollen warst, ohne dich zu erinnern, was du in der Zeit getrieben hast!“
„Glaubst du, mir macht es Spaß, von der irren Manifestation eines Gefühls besessen zu sein?“ Es war trotzig gemeint, es klang erschreckend piepsig.
Nuray musterte sie aufmerksam. „Dann sind wir uns also einig, dass diese LUST verschwinden muss?“, fragte sie.
„Natürlich sind wir uns da einig“, bestätigte Leena müde. „Was denkst du denn, warum ich diesen ganzen Quatsch mache? Doch nur, weil DIE LUST versprochen hat …“
„… dass sie verschwindet, wenn du zwölf Dinge ausprobierst, die anderen Leuten Lust bereiten, und wenn du mindestens drei davon magst. Ich weiß.“ Nuray verdrehte die Augen. „Wie weit bist du eigentlich mit dieser tollen Aufgabe?“
Leena stellte sich vor, in den Flur zu gehen und ihre Umhängetasche mit dem Tablet zu holen. Es war unmöglich. Sie schickte Nuray. Ein flüchtiger Blick genügte: Jemand hatte ihre Was-ist-Lust-Tabelle auf den neuesten Stand gebracht. Leena nahm es hin, ohne sich zu wundern. Sie reichte Nuray den Computer, legte ihre Brille auf den Tisch und lehnte sich zurück. „Schau selbst.“
„Okay“, sagte Nuray. „Du hast Porno mit fünf Punkten, Lachen mit acht, Alkohol mit drei –“
„Das muss ich ausgefüllt haben, als ich noch betrunken war.“
„Ach komm, der Abend war spitze! Exhibitionismus hat einen Punkt …“
„Nur, weil ich keine Null geben durfte!“
„… und Voyeurismus konntest du nicht bewerten, weil du gekniffen hast. Essen hat eine Zehn. Wow. Dann weiter: Stehlen hat fünf, Spielen acht und Verwandlung elf Punkte.“
„Elf von Zehn?“
„Steht hier. Scheint Spaß gemacht zu haben. In wen hast du dich denn verwandelt?“
Leena sah an sich herunter auf die viel zu weiten Jungsklamotten, die sie neben dem Bett im Hotelzimmer gefunden hatte. Sie erinnerte sich an das Kratzen eines Bartes. Und an einen Namen … Joe. Joe? Wer war Joe? Und was hatte sie mit ihm angestellt? Oder besser: Er mit ihr? „Keine Ahnung“, antwortete sie. „Ich kann mich ehrlich gesagt nicht erinnern, Stehlen, Spielen und Verwandlung aufgeschrieben zu haben.“
Nuray grinste. „Das gilt dann wohl auch für Sex mit einem Fremden.“ Sie reichte Leena das Tablet und tippte auf die entsprechende Stelle. „Eine Neun. Nicht schlecht. Ich muss S. unbedingt kennenlernen – vorausgesetzt, sie ist eine Frau.“
Eine Frau? Ein Mann? An Leenas Erinnerungshorizont zeichnete sich ein schmaler Streifen ab. Sie begann zu weinen. Halbherzig streichelte Nuray mit der einen Hand Leenas schluchzende Schulter, mit der anderen trommelte sie auf die Tischplatte – eindeutiges Indiz eines konzentrierten Denkprozesses.
Schließlich schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich hab’s!“, triumphierte sie.
Leena sah ihre beste Freundin mit verwässerten Augen an. „Was?“
„Ich weiß, wie wir DIE LUST loswerden.“
„Wie?“, wollte Leena wissen.
Nuray winkte ab. „Je weniger du weißt, desto besser“, befand sie. „Das einzige, was du tun musst …“ Sie sah sich misstrauisch um, zog dann einen Zettel heran, schrieb etwas darauf und schob ihn Leena hin.
Leenas Augen weiteten sich. „Das ist nicht dein Ernst!“
„Vertrau mir“, sagte Nuray, ging zum Küchenschrank, nahm ein Feuerzeug aus der Schublade und steckte den Zettel in Brand.
Tania Witte lebt als freie Autorin in Neukölln und schreibt ab sofort den wöchentlichen Fortsetzungsroman Lust. Ausgerechnet auf der letzten Seite des tazplan. Ihr aktueller Roman leben nebenbeierschien im vergangenen Jahr beim Querverlag. Außerdem ist sie in Gestalt ihres Alter Egos CayaTe auf SpokenWord- Bühnen aktiv. Weiteres unter: www.taniawitte.de