„Angela Merkel hat die Linken quasi links überholt“

WAHL Jetzt ist der Wirtschaftsflügel der Union gefordert, meint Ökonom Thomas Straubhaar

■ 56, ist gebürtiger Schweizer, Professor für Volkswirtschaftslehre und leitet das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut seit dessen Neugründung 2005.

taz: Herr Straubhaar, erwarten Sie, dass die neue Bundesregierung eine Große Koalition wird?

Thomas Straubhaar: Ja. Das entspricht auch dem Wunsch eines großen Teils der Bevölkerung.

Es gibt eine Mehrheit linker Parteien im Bundestag, und Angela Merkel muss auf jeden Fall mit einem linken Koalitionspartner vorliebnehmen. Werden sich dadurch die wirtschaftspolitischen Koordinaten nach links verschieben?

Das vermute ich stark. Frau Merkel ist schon während der schwarz-gelben Koalition von wirtschaftsnahen Positionen nach links abgerückt. Sie hat aktiv und bewusst Positionen aufgenommen, die der Linken ganz wichtig sind. Das ist eine der Gründe, warum sie so massiv im Wahlergebnis zugelegt hat. Für Sozialdemokraten, aber auch Grüne ist es darum extrem schwer geworden, dagegenzuhalten. Merkel hat die Linken quasi links überholt: Klimawende, Atomausstieg, Abschaffung der Wehrpflicht, Eurorettung, Lohnuntergrenzen, Kindergartenausbau.

Und der Wirtschaftsflügel in der CDU wird heimatlos.

Der Wirtschaftsflügel der CDU ist jetzt stärker denn je gefordert. Er wird die Position der Liberalen und der FDP in die neue Koalition als Gegengewicht einbringen müssen.

Also werden auch marktradikale Unternehmer und Manager, die bislang in der FDP heimisch waren, den Wirtschaftsflügel der Union stärken?

Ja, damit das Koalitionspendel nicht zu stark nach links ausschlägt.

Im Forderungskatalog der Unternehmerverbände stehen drei Kernthemen, die laut BDI-Präsident Ulrich Grillo jetzt angefasst werden müssen: eine Reform der Energiewende, der Anschub einer Investitionsoffensive sowie die Vertiefung der Währungsunion.

Die Punkte zwei und drei scheinen in einer Großen Koalition schnell mehrheitsfähig. Bei Infrastruktur und Bildung passt kaum ein Blatt Papier zwischen die beiden. Auch bei der Energiewende würden dank der leichteren Zustimmung des Bundesrats die heutigen Mängel schnell korrigiert werden können. Strittig ist nur das Ausmaß und wie weit Private beteiligt werden. Das ist auch eine Chance der Großen Koalition, dass in den Punkten Infrastruktur und Bildung relativ viel passieren kann. Das gilt auch für die Währungsunion. Eine Vertiefung ist nur mit einem größeren Engagement Deutschlands möglich.

Wird der rigide Merkel-Kurs in Europa beendet? Gibt es vielleicht einen Marshallplan II?

Ich selber hoffe, dass Frau Merkel die verständliche und teilweise berechtigte Kritik der Alternative für Deutschland aufgreift, und einen Konvent für Europa einberuft. Eine breite öffentliche Diskussion. Es muss vor allem um eine Strategie für Europa im nächsten Jahrzehnt gehen. Und wir Deutsche müssen uns fragen: Sind wir bereit, die zusätzlichen Kosten zu schultern, damit wir weiterhin einen Europäischen Binnenmarkt haben, weiterhin die Vorteile des Euro nutzen können? Dazu müssten wir auch potenzielle Absatzmärkte stärken. Daraus leitet sich eine Strategie ab, die eine Wachstumsperspektive ebenso wie eine Reformpolitik bietet.

INTERVIEW: HERMANNUS PFEIFFER