: Jägerin des verlorenen Schatzes
ORIENTALISMUS Kulturtransfer aus der arabischen Welt: Claudia Otts Übersetzung von „101 Nacht“, der kleinen Schwester der 1001 Nächte
VON BENNO SCHIRRMEISTER
Wenn, dann so, das haben sie bei Manesse schon absolut richtig gemacht: In einer kompromisslos bibliophilen Ausgabe hat der Verlag das von Claudia Ott erstmals ins Deutsche übersetzte arabische Buch mit den Erzählungen aus „101 Nacht“ herausgebracht. Und es ist ein echtes Haben-wollen-Objekt geworden, großformatig, in rotem Samt gebunden und verziert mit maurischen Arabesken aus Kupferfolie.
Das ist klug. Denn einerseits ruft man so in Erinnerung, dass die arabische Kultur sehr früh schon eine der Buchkunst war. Andererseits tut sich mittelalterliche Literatur ohne weitere Anreize schwer damit, Rezensenten zu rocken und Leser zu locken –zumal diese Geschichtensammlung stets im Schatten von „Tausendundeine Nacht“ bleiben wird.
Auch in Frankreich, wo 1911 der bedeutende Orientalist Maurice Gaudefroy-Demombynes eine Übersetzung vorgelegt hatte, konnte sich „101 Nacht“ nicht durchsetzen. Eine Neuauflage erlebte der Band, Mitte der 1980er war das – et c’est tout.
Tatsächlich sind beide Werke trotz unterschiedlichem Geschichtenrepertoire eng miteinander verwandt: Zu den markanten Unterschieden gehört, dass die „101 Nacht“-Tradition das Motiv vom Mann, der sich in den Harem einschleicht, vermeidet, und die Geschichten nicht ineinander verschachtelt. Aber beide Werke sind in dieselbe Rahmenhandlung eingebettet: Schahrazad treibt durch Erzählungen dem erotisch frustrierten König die Frauenmordlust aus, wobei die Version, die „101 Nacht“ eröffnet, besser motiviert ist und die Erzählgeografie eleganter absteckt, also jenen Orient des Orients inszeniert, wo eben die Ifrite hausen und die Dschinns.
Oft hat Al-Andalus, das mittelalterliche arabische Spanien, ohne dessen Übersetzerwerkstätten die europäischen Renaissance nicht stattgefunden hätte, die Perspektive dieser Geschichten geprägt. Das Manuskript des Werkes, dessen bis dahin älteste bekannte Fassung auf 1776 datierte, hat Ott 2010 in den Beständen der Aga-Khan-Stiftung, in einer Sammelhandschrift aus dem frühen 13. Jahrhundert entdeckt – eine Sensation. Es war nach den damaligen Gepflogenheiten mit einem ganz anderen Text zusammengebunden, dem einst berühmten Geografiebuch des Mohammed Ibn Abu Bakr al-Zuhri – ohne jede Absicht, irgendeine inhaltliche Gemeinsamkeit heraus- oder gar herzustellen.
Ein Verfahren, das uns heute fremd ist, wie die Welt dieser Texte, ihr Verständnis von Recht und Unrecht, ihr Bild von der Wirklichkeit. Umso frappierender aber, in ihr Motiven zu begegnen, die infolge des verschütteten und verdrängten Kulturtransfers aus der arabischen Welt auch heutige Leser kennen. Bloß aus viel jüngeren Werken, aus Ariosts Epik, aus Grimms Märchen oder den „Indiana Jones“-Filmen. Vor allem aus denen. Denn viele der „101 Nacht“-Geschichten leben eine große Lust an technizistischen Fantasien aus. Tempel werden von Löwen aus Jade, Schätze von Steinmännern bewacht, die eine Mechanik belebt: Tritt man ihr zu nahe, regt sich die Statue, ihr Bogen vibriert und – nur der junge Held entkommt. Auch Harmloseres wie ein Wellenbad oder das flugfähige Ebenholzpferd bereichern das Inventar mittelalterlicher Science-Fiction, die daran denken lässt, dass in der islamischen Welt damals die Kunde von Hierons Tempelautomaten nicht verloren war.
Diese Geschichten zu lesen, im Buch zu stöbern, das macht Spaß, weil Ott die Texte in ein gegenwärtiges, aber nie modernistisches Deutsch gebracht hat. Bezaubernd zumal die Verse, die sie rhythmisch elegant nachgedichtet hat, samt ihren überraschenden Metaphern: „ein Glücksglanz wie der weiße Stirnfleck eines Pferdes“, heißt es an einer Stelle, an anderer wird der Verfall indirekt als ein Komet bezeichnet, der „seinen langen Schweif durch dieses Haus“ gezogen habe. Das wirkt umso erfrischender, als Ott auch die Stereotype und Wiederholungen reproduziert und den Beginn jeder Nacht streng ins Deutsche überträgt. Denn ja, es stimmt zwar, dass ab der 76. Nacht die Formeln an Umfang verlieren. Aber nur weil sie da offenbar schon den mittelalterlichen Kopisten anfingen zu nerven.
■ „101 Nacht“. Aus dem Arabischen von Claudia Ott. Manesse, München 2013, 334 Seiten, 49,90 Euro