: „Der Prozess hat aufgeklärt“
Necla Kelek über die Wirkung des Sürücü-Verfahrens in der türkischen Community
Verleger-taz: Was halten Sie von diesem Urteil?
Necla Kelek: Ich habe damit nicht gerechnet. Ich dachte, die zwei älteren Brüder würden wegen Beihilfe verurteilt werden. Ich kann nur sagen: Für mich war das Ehrenmord. Mit dem Individualstrafrecht kann man Kollektivtaten nicht aufklären.
Warum nicht?
Weil eine Kollektivtat verschiedene Gründe hat. Das geht ja nicht aus einem Individuum heraus, das sagt: Diese Frau hat mich persönlich beleidigt. Solche Kinder lernen ja nie, für sich persönlich irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Warum soll es in diesem Fall so sein? Der Verurteilte hat das ja nicht für sich selbst getan, sondern für das System, in dem er groß geworden ist.
Der Grünen-Politiker Cem Özdemir hat gesagt, Ehrenmorde seien kein typisch muslimisches, sondern ein sehr archaisches Prinzip.
Da hat er Recht. Es ist ein stammesgemeinschaftliches Welt- und Menschenbild, zu dem traditionell eine bestimmte Vorstellung von Mann und Frau gehört. Dies wird an die Kinder weitergegeben und diese Kinder schaffen es nicht, in einer individualisierten Welt anzukommen. Die Eltern versuchen ihre Kinder in dieser uralten archaischen Vorstellung zu halten. Aber das ist durch die Religion legitimiert, denn diese islamische Religion verbietet ja nicht wirklich diese Kollektivgedanken. Sie müssen das nicht aus der Religion ziehen, aber Sie können es tun.
Wie wird dieses Urteil in der türkischstämmigen Bevölkerung Deutschlands aufgenommen?
Neu für die türkische Community ist die Art, wie die Medien hier den Fall verfolgt haben. Die türkischen Medien haben solche Fälle bislang immer nur beschrieben, aber niemals analysiert. Bei diesem Prozess hier haben die Medien versucht aufzuklären und zu analysieren. Viele meiner Bekannten aus der türkischen Community waren entsetzt. Sie konnten nicht glauben, dass im Namen einer Religion oder einer Stammesgemeinschaft so etwas passiert. Damit war dieser Prozess für sie sehr aufklärerisch.
Wie kann man solche Taten verhindern?
Diese Parallelgesellschaften, von denen ich immer wieder spreche, müssen ans Tageslicht kommen. Man muss unbedingt die Strukturen dieser Familien verstehen: warum sie den Mädchen fast überhaupt keine Rechte geben und dass die Söhne als Wächter ihrer Schwestern erzogen werden. Je mehr die Gerichtsbarkeit das zur Kenntnis nimmt, je mehr das in den Schulen diskutiert wird, wird man das anders beurteilen. Melek, die Hauptzeugin, hat persönliche und gesellschaftliche Verantwortung übernommen. Sie hat damit ihr Leben aufs Spiel gesetzt und hat im Namen der Gerechtigkeit Verantwortung übernommen.
Sie meinen, dass der Sürücü-Prozess künftig Aufklärung erleichtert?
Ja, weil es für Familien, die von so etwas erfahren, wichtig ist zu wissen, dass sie so eine Tat in einem Rechtsstaat anzeigen müssen. Dafür war der Prozess ganz wichtig. INTERVIEW: LUDGER CLASSEN