: Werden Hirsche im Alter vernünftig?
AUFKLÄRUNG Vor 300 Jahren wurde der Philosoph, Schriftsteller und Enzyklopädist Denis Diderot geboren. Zur Wahrheit gehörten für ihn List, Ironie und Paradoxa
VON RUDOLF WALTHER
Auf einen Schlag bekannt wurde der am 5. Oktober 1713 in Langres in Burgund geborene Denis Diderot mit seinen „Philosophischen Gedanken“, weil das Pariser Parlament (ein Gerichtshof) am 7. 7. 1746 befahl, die Schrift zu verbrennen, da sie „skandalös“ sei, „gegen die Religion und die guten Sitten“ verstoße und „alle Religionen auf dieselbe Stufe“ stelle, „so dass schließlich keinerlei Religion anerkannt“ werde. Gegen „barbarischen Glaubenseifer“ plädierte Diderot für eine Religion, die Menschen „als vernünftige Wesen behandelt“ und „ihnen nicht zumutet, irgendetwas zu glauben, das über ihre Vernunft geht und dieser nicht gemäß ist“. Näher als dem Atheismus stand Diderot zu dieser Zeit noch einem allgemeinen Deismus, wonach nicht ein Schöpfergott, sondern ein kosmisches Prinzip – das abstrakte Göttliche – die Welt erschaffen habe und ihre Geschicke leite.
Diderot stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Der Vater war Messerschmied, die Mutter Tochter eines Gerbers. Eigentlich sollte er Priester werden wie sein Bruder, aber der Onkel, der ihm eine Pfründe vererben sollte, verstarb, als Diderot noch ein Knabe war. Der junge Diderot studierte schließlich in Paris und schlug sich danach als Hauslehrer, Schreiber und Übersetzer durch. Intellektuelle Nüchternheit zeichnete Diderot aus. Er verlor sich nicht in Spekulationen, sondern schrieb bereits im ersten Buch: „Man soll von mir verlangen, dass ich die Wahrheit suche, aber nicht, dass ich sie finde.“ Bescheidenheit prägte auch seinen Lebensstil. Nichts zog ihn an den Versailler Hof. Seine Welt wurden die Salons der bürgerlichen Elite, mit der er debattierte.
Abenteuerliche Entstehung
Im Oktober 1745 schlossen sich vier Pariser Drucker zu einem Konsortium zusammen, für das Diderot Ephraim Chambers’ „Cyclopaedia, or universal dictionary of arts and sciences“ (2 Bände 1728) übersetzen sollte. Zwei Jahre später einigten sich Diderot und der Mathematiker Jean Le Rond d’Alembert mit den gleichen Druckern auf einen Vertrag über die Herausgabe eines lexikalischen Werkes, der „Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ („Enzyklopädie oder auf Vernunfterkenntnis gegründetes Lexikon der Wissenschaften, der Künste und der Gewerbe“). Diese Enzyklopädie stellt das Wissen über Wissenschaften und Künste mit demjenigen über Handwerke und Gewerbe auf eine Stufe. Erstmals wurde hier nicht nur das Wissen aus Büchern geordnet, sondern auch das „Wissen aus den Werkstätten“ (Diderot), in die Diderot seine Autoren und Graveure schickte.
Die Entstehung des Werks war abenteuerlich. Am 24. Juni 1751 erhielt der erste Band das königliche Druckprivileg. Nach dem Prospekt sollten bis 1754 acht Text- und zwei Bildbände erscheinen. Die Subskribenten mussten dafür 280 Livres, in heutiger Währung etwa 3.300 Euro, vorschießen. Das Werk wurde erst zwanzig Jahre später abgeschlossen, kostete mehr als das Dreifache und umfasste 17 Text-, 11 Bild-, 4 Ergänzungs- und 2 Registerbände – insgesamt 72.000 Artikel und 2.800 Kupferstiche. Das „Business of Enlightenment“ (Robert Darnton) machte die Verleger reich und Diderot zu deren „Sklave“ (Voltaire).
Noch bevor der erste Band erschien, wurde Diderot am 22. 7. 1749 auf einen Geheimbefehl hin („lettre de cachet“) verhaftet. Man hielt ihn für den Verfasser des religionskritischen „Briefs über die Blinden“. Während der Haft intervenierte der Verleger beim Kanzler und beim Justizminister. Nach 103 Tagen kam Diderot wieder frei, musste sich jedoch verpflichten, kein philosophisches Werk mehr zu veröffentlichen, woran er sich bis 1778 hielt. Allein für die ersten beiden Bände der „Encyclopédie“ steuerte Diderot aber – ohne Namensnennung – rund 3.500 Artikel bei, darunter politisch zentrale wie „Aufgeklärt“, „Autorität“, „Bürger“, „Eigentum“, „Erhaltung (Moral)“. Der fleißigste Mitarbeiter – Chevalier Louis de Jaucourt – schrieb rund 20.000 Artikel und verdiente dafür ganze 2.750 Livres, Diderot 80.000. 1754 musste Jaucourt sein Haus für 21.000 Livres verkaufen, um seine Schreiber zu entlohnen. Der Käufer des Hauses war einer der vier Drucker, die zusammen rund 2,5 Millionen Livres mit der „Encyclopédie verdienten.
Zweimal wurde die „Encyclopédie“ verboten, aber – ausgerechnet durch den obersten Zensor und den Innenminister – gerettet. Weil sich der Hof mit seinen „philosophes“ international profilieren wollte, wurde der Vertrieb des Werks im Ausland und in der Provinz erlaubt und nur in Paris verboten. Das königliche Ansehen war schwer angeschlagen. Seit 1750 schwelte die Krise der despotischen Herrschaft; Steuerlast, Leibeigenschaft und koloniale Sklaverei diskreditierten das Regime. Es eröffnete einen Krieg gegen Delinquenten, Intellektuelle und Jesuiten. Rousseau und die Jesuiten wurden vertrieben, einfache Delinquenten barbarisch vernichtet: Robert François Damien etwa, der am 5. 1. 1757 den König mit einem Messer leicht verletzt hatte, wurde am 28. 3. 1757 hingerichtet. Das widerliche Spektakel, in dessen Verlauf sein Körper mit eisernen Nägeln, flüssigem Metall und heißem Asphalt misshandelt und zuletzt von vier Pferden in Stücke gerissen wurde, dauerte sechs Stunden.
Das konservative Ressentiment gegen die Aufklärung vom katholischen Fundamentalismus bis zu Carl Schmitt verdrehte Ursache und Wirkung, indem es sich die Kritik der Aufklärer an dieser Krise nicht als deren Folge erklärte, sondern als deren „Vorbote“ (Reinhart Koselleck) kostümierte und so den Urheber der Krise – den „monarchischen Despotismus“ (Diderot) und sein Regime – nachträglich zum Opfer von Kritik, Aufklärung und bürgerlicher Emanzipationsbewegung machte.
Zur „Dramaturgie der Wahrheit“ (Pierre Lepape), wie sie Diderots Aufklärung und Kritik demonstrierten, gehörten auch List, Ironie, Spott, scheinbare und wirkliche Paradoxa, mit denen die Kritik am maroden Regime kaschiert wurde. Mit unsinnigen Nebensätzen etwa über die Frage, ob Hirsche im Alter vernünftig würden, verballhornte das Lexikon dogmatische Irrationalismen oder verspottete autoritative Gewissheiten, indem es mitten in sachliche Darlegungen über das Volk der Chaldäer aufklärerische Programmsätze einfügte: „Der Mensch ist dazu geboren, selbst zu denken“, um dann fortzufahren, dass nur Chaldaer auf die Idee kommen könnten, „der Vernunft Grenzen zu ziehen“. Der Artikel „Frankreich“ von Jaucourt umfasst ganze 900 Wörter, die vor allem vom Elend und vom sozialen Gefälle handeln. Diderot beanspruchte dagegen für seinen Artikel „Encyclopédie“ 31 Seiten mit rund 32.000 Wörtern, um dem Publikum die neue Art zu denken zu demonstrieren. „Unsere Losung“, schrieb Diderot am 29. 9. 1762 an Voltaire, „lautet: Kein Pardon für die Abergläubischen, die Fanatiker, die Unwissenden, die Toren, die Bösen und die Tyrannen!“
Bruch mit Erzählformen
Diderots häufiger Perspektivenwechsel und sein ironisches Spiel damit, dass etwas so oder auch anders sein könnte, wird oft als Modetorheit missverstanden. Aber seine radikale Kritik an Eindimensionalität und Dogmatismus reimt sich gerade nicht auf die seichten Beliebigkeitspirouetten des postmodernen „Anything goes“, sondern zielt auf cartesianische und christlich-theologische Dualismen von Geist/Körper, Intellekt/Sinnlichkeit, Zufall/Notwendigkeit, Gott/Welt, die Diderot als „heftiger Dialektiker“ (Goethe) in emanzipatorischer Absicht aufsprengte.
Das tat Diderot auch in seinen formal avantgardistischen Werken – insbesondere in den Romanen „Rameaus Neffe“, den Goethe 1805 übersetzte, und „Jakob der Fatalist und sein Herr“, der ebenfalls erst nach Diderots Tod erschien. Rameaus Neffe ist ein Mitläufer in einer moralisch verkommenen Gesellschaft. Diderot entfaltete seine Gesellschaftskritik in einem Dialog zwischen einem „Ich“, hinter dem er sich manchmal versteckt, und einem „Er“, Rameaus Neffe. Dieser vereinigt in sich dem antiken Kyniker in der Tradition von Diogenes als Provokateur, Witzbold, Egoist, Kritiker und Immoralist und dem in der Moderne angekommenen Zyniker, der Ungleichheit, Herrschaft und „die besten Ordnung der Dinge“ (Diderot) verteidigt. Die gespaltene Person des Neffen ist hündisch-gehorsam und bekennt gleichzeitig: „Ich möchte gern ein anderer sein.“ Ichspaltung und Selbstwiderspruch stehen dem Neffen auf der Stirn geschrieben. Hegel bezog sich explizit auf Diderots Roman, als er 1806 in der „Phänomenologie des Geistes“ den „sich entfremdeten Geist“ als „zerrissenes Bewusstsein“ und zugleich Signatur des Zeitalters der Moderne porträtierte. Dem platten Fortschrittsoptimismus vieler Aufklärer erlag Diderot gerade nicht, insofern ist die Rede von „Ratiokratie“ (Ursula Pia Jauch) bloß ein anachronistisches Konstrukt. In den Züchtungsphantasien der „Gespräche mit d’Alembert“ (1769), wonach Menschen mit Ziegen gekreuzt werden sollen, um eine „flinke Rasse“ zu züchten, erkennt Diderot nur die Verewigung von Herrschaft: „Ziegenmenschen in Livree“ traben „hinter der Kutsche ihrer Herzoginnen“ her.
Ab 1759 arbeitete Diderot an der „Correspondance littéraire, philosophique et critique“ mit, die Melchior Grimm (1723–1807) an ausgewählte Empfänger an europäischen Höfen verschickte. Diderot berichtete vor allem über Kunstausstellungen und „erfand“ dabei das Genre einer Kunstkritik, die ihren Glanz bis heute behalten hat. Zwischen 1764, dem Jahr, in dem Diderot erfährt, dass der Drucker die Texte der Enzyklopädie verfälscht, und seinem Tod 1784 entstand neben philosophischen Fragmenten der Roman „Jacques der Fatalist und sein Herr“, der mit allen konventionellen Erzählformen bricht. In einem virtuosen Spiel entfaltet Diderot einen Dialog über Willensfreiheit und Schicksal, Zufall und Notwendigkeit, in dem traditionelle Gewissheiten zu Staub zerrieben werden. Zugleich wird daran festgehalten, dass „sich die Vernunft keiner außer ihr liegenden Autorität beugen darf“ (Jean Starobinski). Jacques’ Fatalismus, wonach alles „oben geschrieben steht“, erweist sich als ebenso widersprüchlich wie die Kritik des Herrn daran. Diderot gibt keine endgültigen Antworten, sondern demonstriert seine „Kunst der Beweisführung“, wie Starobinski belegt.
1773 folgte Diderot für kurze Zeit einem Ruf der Zarin Katharina II. an den Hof nach Sankt Petersburg. Die Reise wurde ein Fiasko. Sein Credo, „ich sage Ihnen nur, was ich denke“, wollte niemand hören. Am 31. 7. 1784 starb Diderot – in seiner Bedeutung verkannt – in Paris.
■ Denis Diderot: „Philosophische Schriften“. Herausgegeben von Alexander Becker. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 281 Seiten, 17 Euro
■ „Diderots Enzyklopädie“. Herausgegeben von Anette Selg und Rainer Wieland. Aus dem Franz. v. Holger Fock. Die andere Bibliothek, Berlin 2013, 508 Seiten, 79 Euro