: Der Milchmann 2.0
KONSUM Produktneuheiten und Verbraucherstimmung sind die Themen auf der Anuga, der weltgrößten Messe für Lebensmittel. Nur ein Trend hat sich bislang nicht durchgesetzt: der Onlinehandel. Nun greift Amazon an
VON JÖRN KABISCH
Am Anfang war die Flasche Milch. Vor über 130 Jahren nahm der Berliner Kaufmann Julius Bolle eine Idee aus Großbritannien auf, stellte mitten in Berlin Kühe auf die Weide und ließ seine Kunden fortan an täglich beliefern. Der Milchmann zog frühmorgens mit dem „Bollerwagen“ durch die Straßen und stellte das Bestellte vor die Haustür. Es war die Geburt des Heimdienstes – und sogleich ein riesiger Erfolg. Der Kühlschrank war 1881 noch nicht erfunden und viele Menschen, die es in der Hochzeit der Industrialisierung zur Arbeit in den Städten gedrängt hatte, dürstete es nach einem Schluck gesundem Landleben.
Wie man seine Produkte am besten an den Kunden bringt, das ist bis heute eine der Schlüsselfragen für die Lebensmittelindustrie. Und es ist immer auch ein Thema auf der Anuga, der weltgrößten Ernährungsmesse, die alle zwei Jahre in Köln stattfindet. Schon allein, weil die Aussteller tausende Produkte „just in time“ anliefern müssen. Es handelt sich schließlich um verderbliche Ware. Kurz vor der Eröffnung an diesem Samstag wurden täglich bis zu 1.400 Lkws auf dem Kölner Messegelände abgefertigt. Eine echte Herausforderung für die Logistik.
Das Davos der Lebensmittel-Branche
Denn die Anuga ist wie die Frankfurter Buchmesse, die fast zeitgleich am Main stattfindet, eine Neuheiten-Show: 6.800 Anbieter aus 98 Ländern haben sich angemeldet und zeigen neue Trends, vor allem aber neue Produkte.
Egal ob Kichererbsen-Knusperwaffel oder Schinkenmett für den Ofen: Sieht man sich das ganze Sortiment an, wird man das Gefühl nicht los, einen Modekatalog in der Hand zu haben, mit neuen Schnitten und Konfektionen. Im Convenience-Bereich, den „bequemen“ vorproduzierten Lebensmitteln, der von der Backmischung bis zum Tiefkühlmenü reicht, ist die Fantasie der Hersteller noch immer grenzenlos.
Man kann die Anuga getrost das Davos der Branche nennen. Im Rahmenprogramm der Messe löst sich Harry Brouwer, der deutsche Geschäftsführer des Lebensmittelriesen Unilever, mit Herbert Bolliger, Chef der großen Schweizer Einzelhandelskette Migros, mit Einstiegsreferaten ab. Doch Kritiker der Ernährungsindustrie, die vor zwei Jahren mit erzwangen, dass Gänsestopfleber von der Messe verschwand, sind diesmal Teil der Veranstaltung. Wie der Regisseur und Verschwendungskritiker Valentin Thurn, der seit Jahren laut darauf hinweist, wie viel Müll die neuzeitliche Ernährung produziert. Die Macher haben gelernt. Jüngere Studien haben ihnen gezeigt: Es ist kein zu vernachlässigender Teil der Verbraucher mehr, der beim Einkauf immer bewusster wird, sich das Kleingedruckte anschaut und nicht mehr den großgedruckten „Rezeptvorschlägen“ auf den Verpackungen vertraut. Der kompetente Kunde, das ist einer der vielen Trends, die die Anuga beherrschen wird.
Bei allem Innovationseifer: Ein tiefgreifender Wandel hat die Nahrungsmittelindustrie erstaunlicherweise noch nicht erreicht. Sie steckt noch immer tief im analogen Zeitalter. Bücher, Kleider oder Reisen: All das ist heutzutage leicht im Internet zu bestellen. Die neuen Einkaufsmöglichkeiten verändern das Geschäftsbild in den Städten bereits grundlegend. Nur im Lebensmittelbereich hat der Onlinehandel bisher kaum Fuß gefasst.
Das könnte sich bald ändern. Amazon, über den Internet-Buchhandel längst hinaus gewachsen und auf dem Weg zum Online-Megastore hat inzwischen den Food-Bereich als Wachstumsmarkt entdeckt. Es ist das Projekt Milchmann 2.0.
AmazonFresh heißt das neue Angebot des Versandhändlers. Noch ist es eher ein Experiment, begrenzt auf die USA. Seit Jahren im Ballungsraum von Seattle und seit diesem Sommer auch in Los Angeles verwendet Amazon seine Logistik zusätzlich, um Frischwaren wie Gemüse, Fisch, Fleisch, Eier und Milch an die Haustür zu bringen. Natürlich ist auch Bio im Angebot. Bestellungen vor 10 Uhr morgens werden noch am gleichen Tag ausgeliefert. Hat das Projekt Erfolg, will Amazon das Angebot 2014 auf andere Großstädte in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa ausweiten.
Bringdienste haben es in Deutschland extra schwer
Branchenexperten beobachten den Essen-auf Räder-Versuch des Versandhändlers gelassen. Der frühere Wal-Mart-Manager Roger Davidson hält es für unwahrscheinlich, dass mit dem Online-Lebensmittelhandel Geld verdient werden kann. „Die Gründe, warum dies in der Vergangenheit schiefgegangen ist, sind nicht verschwunden.“
Tatsächlich hat es in den vergangenen Jahren immer wieder Versuche mit dem Onlinehandel gegeben, die schnell wieder eingestellt wurden. Auch in Deutschland. Denn die Gewinnmargen im Nahrungsmittelsektor sind gering, zudem geht es um Produkte, die schnell ablaufen und beim Transport leicht beschädigt werden können. Von den über 130 Milliarden Euro, die die Branche hierzulande im Jahr umsetzt, entfallen nach Schätzungen von Handelsexperten derzeit nur rund 0,1 Prozent auf den Onlinehandel. Trotzdem: Große Ketten wie Rewe und Kaiser’s-Tengelmann halten die Onlinesupermärkte weiter offen, bei Anfahrtsgebühren von bis zu 7 Euro für den Kunden.
Hierzulande gilt das Onlinegeschäft als besonders schwer. Wegen der vielen Discounter sind das Preisniveau noch niedriger und die Gewinnmöglichkeiten noch begrenzter als anderswo in Europa. Zudem sorgt die große Konkurrenz im Einzelhandel noch für eine relativ hohe Ladendichte. Zum Einkaufen hat es niemand weit, anders als in Italien, Frankreich oder in den skandinavischen Ländern. In Großbritannien werden Schätzungen zufolge schon bis zu 5 Prozent des Umsatzes über den Internethandel erzielt.
Warum die Konkurrenz das Amazon-Projekt trotzdem mehr als interessiert verfolgt, liegt am Logistik-Know-how des Großhändlers. Effiziente Lagerverwaltung und ein eigener Fuhrpark: damit könnte Amazon die Liefergebühren entscheiden senken. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Lieferant im Lebensmittelbereich von sich reden macht. Bevor er in Milch machte, hatte Julius Bolle in Berlin den Transport von Kühleis aufgebaut.