ACHSE DES FOLK – VON CHRISTOPH WAGNER
:

Klänge aus einem unbekannten Land

Vielleicht ist es ein Symptom der Zeit, dass im Augenblick Folk wieder so en vogue ist. In den Wirren der Gegenwart sucht der Zeitgeist nach Linderung und Folkmusik eignet sich als Balsam für die Seele. In der Popwelt galt das „four letter word“ bis vor kurzem noch als Chiffre für Leute von gestern, als Refugium für bärtige Althippies mit selbst gestrickten Wollpullis – rückwärts gewandt und verschroben.

Jetzt kratzen jungen Musiker des aktuellen Acid-Folk- oder Avant-Folk-Revivals an solchen Gewissheiten. Träumerische Melodien, Soundmeditationen und Drones werden mit experimentellen Tönen und freien Improvisationen zu einer Folkmusik verwoben, die aus einem Land zu stammen scheinen, wo noch niemand gewesen ist. Tief in den Zauberwald hinein führen die Liedgeschichten der Glasgower Band Nalle (finnisch für Bär), die von der Stimme von Hanna Tuulikki getragen werden. In suggestivem Ton raunt sie magische Worte. Silben werden beim Singen modeliert, während die Instrumente Klänge einstreuen, die an das Rascheln von Laub, das Knarren eines Baums oder das Sprudeln eines Bachs erinnern. Saitenmusiker Chris Hladowsky nutzt seine Bouzouki, um Verzerrungen zu erzeugen, oder er singt ins Resonanzloch, aus dem es wie aus einer Echokammer widerhallt.

Nalle: „By chance upon waking“ (www.pickled-egg.co.uk)

Sonderbare Visionäre der Sechziger

Wer genauer hinhört, kann im aktuellen Trend ein Echo des Folk-Revivals der Sechziger vernehmen. Heute kommen diese sonderbaren Visionäre zu neuen Ehren, die sich schon damals wenig um Konventionen scherten.

John Martyn ist ein solcher Gottsucher, der die englische Folkszene mit Aufsehen erregenden Alben Ende der Sechziger verstörte. Der Gitarrist und Sänger, der wie Nalle ebenfalls aus Glasgow stammt, ließ sich nicht aufs Folk-Genre festnageln. Sein extrovertierter Geist griff nach Jazz, Blues, Rock und Reggae, die er zu einer einmaligen Synthese verband. Martyn nutzte die Freiheit der Improvisation, holte sich den Freejazz-Drummer John Stevens und den Reggae-Posaunisten Rico in die Band. Als unbeherrschter Exzentriker und gefürchteter Alkoholiker glichen seine Konzerte einer Zitterpartie. Doch bei seinem Bremer Konzert von 1975, das er allein mit Gitarre, Stimme und einem Echogerät bestritt und das „On Air“ dokumentiert, waren alle Sensoren auf einen Punkt konzentriert.

Martyn arbeitete sich in die Songs hinein. Seine Musik war pure Körperlichkeit. Mit Wucht drosch er die Akkorde, riss die Saiten fast mit Brutalität an. Das war kein Liedersingen mehr – da heulte einer den Mond an. Von solcher Urgewalt kann der neue Folk-Underground noch lange zehren.

John Martyn: „On Air“ (www.tradition-moderne.com)

Das Universalgedächtnis der Frühzeit

Noch eine Generation zurück und man gelangt zu den Quellen des Folk, zu Musikern, die die Lieder und Melodien noch in der Familie gelernt haben – aus erster Hand. Hobart Smith (1897–1965) war so ein Urgestein, ein Naturereignis. Der Mann aus den Bergen von Virginia hatte dutzende und aberdutzende von Songs, Tanzweisen und Gospelhymnen in seinem musikalischen Universalgedächtnis gespeichert. Die hatte er von kleinauf gelernt, als er Abend für Abend mit seinen Eltern und Geschwistern ums Kaminfeuer saß und Lieder anstimmte.

Smith war ein Banjopicker von unglaublicher Virtuosität. Er konnte Stücke in einer Geschwindigkeit herunterfetzen, die Staunen machte. Und sein Gitarren-, Fiddle- und Pianospiel standen dem kaum nach. Daneben war er ein formidabler Mandolinen-, Harmonium-, Akkordeon- und Mundharmonikaspieler mit einer ausdrucksstarken Stimme. Was er anfasste, fing an zu klingen. Dennoch: Musik machte er nur nebenbei. Tagsüber betrieb er eine kleine Farm. Die große alte Dame des englischen Folkrevivals, Shirely Collins, hat Hobart auf einem „Recording Trip“ mit Alan Lomax Ende der Fünfzigerjahre besucht. Sie nannte ihn einen Zauberer. Vielleicht begegnen ihm auch die jungen Folkies im Zauberwald.

Hobart Smith: „In Sacred Trust – The 1963 Fleming Brown Tapes“ (www.folkways.si.edu)