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Archiv-Artikel

An Schweden ein Beispiel nehmen

Die Lage

Sie können nicht vor, sie können nicht zurück. Auf der Flucht vor Kriegswirren und Verfolgung sind Hunderttausende Menschen in Flüchtlingslagern von Entwicklungsländern gestrandet und dort zum Teil in dritter Generation kaserniert. Sie leben von Hilfszahlungen und haben weder die Aussicht, sich ein neues Leben aufbauen noch in ihre Heimat zurückkehren. „Man hängt im Nichts“, beschreibt der Sudanese Emud Hassan sein Leben im Flüchtlingslager in Tunesien (taz vom 5. 10.). Der einzige Ausweg ist die Flucht in die Industrieländer, oft illegal und gefährlich über das Mittelmeer. Für sein Umsiedlungsprogramm sucht das Flüchtlingswerk UNHCR aufnahmebereite Länder. „Es geht um dauerhafte Lösungen“, sagt Norbert Trosin vom UNHCR.

Die Reform

Zurzeit gibt es jährlich etwa 80.000 Plätze für Resettlement-Flüchtlinge weltweit, gebraucht werden etwa 140.000 im Jahr. Der UNHCR will die reichen Länder dazu bewegen, mehr Menschen ein neues Zuhause zu bieten. Gelobt wird dabei Schweden: Das 9,5-Millionen-Einwohner-Land stellt jährlich etwa 1.900 Plätze bereit. Würden im Verhältnis zur Einwohnerzahl alle EU-Staaten so verfahren, könnte der UNHCR jedes Jahr alle Flüchtlinge verteilen. Das ist jedoch nicht in Sicht. Deutschland hat sich 2011 dazu verpflichtet, für drei Jahre jeweils 300 Menschen aus dem UNO-Programm aufzunehmen. Bisher sind 400 angekommen. Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, sagte der taz: „Die Zahl von 300 Flüchtlingen pro Jahr ist lächerlich.“ Deutschland müsse sich für ein echtes europäisches Aufnahmeprogramm in der Größenordnung der USA stark machen, die pro Jahr knapp 60.000 umgesiedelte Flüchtlinge aufnehmen.

Wer hätte etwas davon

Alle Menschen im Resettlement-Programm sind anerkannte Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention, das heißt, sie werden in ihren Heimatländern bedroht und verfolgt. Das UNHCR legt zudem noch besondere Härtekriterien an. So sind unter den Resettlement-Flüchtlingen häufig Angehörige religiöser Minderheiten, Frauen und Mädchen sowie Kranke. Wenn sie einen Platz in einem Gastland finden, haben sie sofort alle Rechte als anerkannte Flüchtlinge. Das heißt, sie haben in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen, freien Zugang zum Arbeitsmarkt und dürfen die Familie nachholen.

Ein gemeinsamer Wille, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, fehlte bisher in der EU, stattdessen dominierte der Abwehrgedanke. Das UNHCR formuliert es diplomatisch: „In Europa schaut jeder auf jeden.“ „Jeder versteckt sich hinter jedem“, sagt Günter Burkhardt von Pro Asyl. Gemeint ist das Gleiche. Die EU-Staaten haben Angst vor ihren Wählern, den Folgekosten und hegen die Befürchtung, dass zu viel Menschlichkeit als Einladung für weitere Flüchtlinge verstanden werden könnten. Zumindest in diesem Punkt kann das UNHCR beruhigen: „Die großzügigeren Regelungen in Skandinavien und den Niederlanden haben bisher nicht zu einem Anstieg der Einwanderung geführt.“

Chancen auf Umsetzung

Der Druck auf Europa wächst. Der Präsident des europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), forderte die Bundesregierung auf, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen. In der Montagsausgabe der Bild-Zeitung sagte Schulz: Es sei eine Schande, dass die EU Italien mit dem Flüchtlingsstrom aus Afrika so lange alleingelassen habe. Flüchtlinge müssten gerechter auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. Schultz meint, das Thema müsse auf die Tagesordnung des EU-Gipfels im Oktober. ANNA LEHMANN