: „Heilung bedeutet Schmerz und Arbeit“
TRAUMA Der Roman „Moor“ erzählt von schlimmer Kindheit und verwundeter Sprache: ein Treffen mit dem Autor Gunther Geltinger
■ Gunther Geltinger wurde 1974 in Erlenbach am Main geboren und lebt in Köln. Er studierte Drehbuch und Dramaturgie in Wien. Sein Debütroman „Mensch Engel“ erschien 2008 beim Verlag Schöffling & Co. Im Jahr 2011 nahm er an dem Wettlesen um den Bachmannpreis in Klagenfurt teil.
■ Der Roman „Moor“ ist bei Suhrkamp erschienen. Er hat 441 Seiten und kostet 22,95 Euro
VON DANIEL SCHREIBER
Wo trifft man sich, wenn man über das Erzählen von einem Trauma sprechen möchte? Gibt es überhaupt einen guten Ort dafür? Gunther Geltinger erklärt sich zu einem Besuch im Neuen Museum in Berlin bereit. Der Kölner Schriftsteller, dessen sprachmächtiger Debütroman „Mensch Engel“ vor fünf Jahren die deutsche Literaturszene aufmerksam machte, ist mit „Moor“ zurück. Darin geht es um den stotternden Jungen Dion Katthusen, der in der norddeutschen Provinz allein mit seiner psychisch instabilen Mutter aufwächst. Geltinger entfaltet dieses Szenario von Missbrauch und Liebe so eindringlich, dass man dieses Buch lange nicht vergisst. Ein Roman, dessen erzählerische Schichten, dessen emotionale Sedimente und schmerzliche Einschusslöcher dem Museumsgebäude von David Chipperfield nicht unähnlich sind.
taz: Herr Geltinger, Ihr Roman überrascht mit einem Kunstgriff. Sie lassen eine Landschaft erzählen, das Moor. Warum?
Gunther Geltinger: Für mich wird eine Geschichte erst relevant, wenn ich weiß, wie ich sie erzählen kann. Nach der Erzählhaltung in „Moor“ hab ich lange gesucht. Ich wusste, dass ich eine grenzüberschreitende Liebesgeschichte zwischen Mutter und Sohn erzählen wollte, und ich hatte angefangen, sie erst einmal klassisch zu erzählen. Aber es wurde mir irgendwann klar, dass das nicht ging, wenn ich sie wertfrei erzählen wollte.
Sie wollten kein psychologisches Kammerspiel schreiben?
Ich wollte zwar psychologische Deutungsräume lassen, aber die Beziehung zwischen Dion und Marga moralfrei erzählen. An der Idee des Moor-Erzählers hat mich die Umkehrung der Idee der Seelenlandschaft interessiert. Normalerweise ist die Landschaft Abbild des versehrten Innenlebens eines Protagonisten. Hier aber erzählt die Seelenlandschaft und spricht ihren Protagonisten direkt mit „Du“ an. Das Moor als Panoptikum spricht zwar von Dion und seinen Gefühlen, aber es ist zugleich sehr viel mehr als der Junge. Sein „Du“ bezieht auch den Leser mit ein. Egal, wohin sich die Erzählung bewegt, man entkommt der Perspektive des Moores nicht.
Ging es auch darum, einen Ausweg aus der Perspektive des Sozialdramas zu finden, die sich bei solchen Stoffen aufdrängt?
Ja, die Beziehung zwischen Dion und seiner Mutter könnte eigentlich eine totale RTL-Geschichte sein, eine Geschichte, die das Zeug zum Skandal hat. Marga ist Prostituierte, dann auch noch die Tabletten und der Alkohol … Ich decke das ganze Feld ab!
„Moor“ berührt so, weil es dem bewegten Innenleben von Dion eine Stimme gibt. Eine Stimme für einen Jungen, der auf seine Mutter meistens nur sprachlos, stotternd reagieren kann.
Das Moor ist natürlich auch ein identitätsstiftender Raum. Dort finden Dions Prägungen statt, seine Pubertät, dort lebt er seine Sehnsüchte aus. Das Moor hat eigentlich nur eine Sprache, weil Dion keine hat. Als Stotterer kann er nicht über die sprachliche Kraft der Identitätsbildung verfügen. Er kann Sprache nicht als ein Mittel benutzen, um sich zu behaupten und abzugrenzen, das funktioniert bei ihm nicht. Und seine Mutter braucht es sogar, dass er stottert. Das Moor als Erzähler gibt Dion die Sprache, die er sprechen könnte, wenn er nicht stottern würde. Eine Sehnsuchtssprache.
Wir bleiben an einer rissigen Museumswand stehen. Kahle Ziegel umgeben die Fragmente eines Freskos und den vorsichtig restaurierten Stuck, eine spätklassizistische Stüler-Säule trägt die moderne Betondecke. Ein verletztes Gebäude-Ich, zärtlich wieder zusammengesetzt. Auch das Moor in Geltingers Roman ist so ein versehrtes Ich, das auf diese unvollständige Weise Zeit verdaut. Fantasien werden so erzählt, als seien sie Wirklichkeit, Erinnerungen können wahr sein oder auch nicht, es gibt immer mehrere Fährten. Den traumatisierten Menschen, von denen hier erzählt wird, kann man nie vollends Glauben schenken. Sie wissen selbst nicht genau, was ihnen zugestoßen ist. Geltinger evoziert die Risse und Narben innerer Verletzungen so genau, dass man sich irgendwann fragt, woher er sie so gut kennt. Der Autor guckt ein bisschen skeptisch, aber auch amüsiert. Offensichtlich sei diese Geschichte nicht seine! Aber als Kind habe auch er gestottert, bietet er an. Ohne diesen Umstand wäre er wohl nicht Schriftsteller geworden. Wie für Dion hatten Buchstaben eine emotionale Physiognomie für ihn, erschienen ihm als kleine mythische Monster. Und er sei ziemlich therapieerfahren, sagt er.
Ich habe mir verschiedene therapeutische Konstellationen angeschaut, auch um bestimmte Systeme zu verstehen. Ein Künstler, der durch eine gewisse psychiatrische Schule geht, kann daraus großen Gewinn ziehen. Aber ich habe daraus nicht unbedingt die Einsicht gezogen, dass ich in der Gesellschaft als dieser geformte Teil zu funktionieren imstande bin. Im Schreiben kann ich mir diese Widerständigkeit erhalten. Schreiben ist immer auch ein Angriff auf den Imperativ, zu funktionieren.
Aber ist Schreiben heute nicht auch mit der kulturellen Fantasie des Ankommens verbunden, damit, auf Oprah Winfreys Couch zu landen? Auch der ältere Dion schreibt in ihrem Roman ein Buch. Warum?
Im Grunde macht Dion genau das, was jemand wie Natascha Kampusch gemacht hat. Er schreibt ein Buch, findet im Schreiben eine Sprache und verschafft sich Gehör. Damit versucht er letztlich, sich mit seinem Trauma, mit seiner Kindheit und all ihren Verwundungen in dieser Gesellschaft einen Platz zu schaffen. Man könnte auch sagen: Die Gesellschaft verlangt von ihm, dass er dieses Buch schreibt und seine traumatische Vergangenheit bewältigt, damit er diesen Platz bekommt.
Trotzdem gibt es kein Happy End.
Ja, das wäre aber dann auch eine Erlösungsgeschichte gewesen. In irgendeiner Weise hätte es dann eine Therapie gegeben, eine Selbsttherapie. Was ich nicht erzählen wollte, war eine Geschichte der Trauma-Bewältigung, und dann noch den Klassiker: Versehrter Autor heilt sich selbst durchs Schreiben. Der Roman ist ein literarisches Spiel mit kulturellen Trauma-Bildern. Das Leben ist komplizierter. Marga zum Beispiel ist in der Psychiatrie, in die sie irgendwann kommt, ganz glücklich. Sie bekommt ihre Diagnosen gestellt und irgendwann wird sie als austherapiert entlassen. Aber natürlich ist sie nicht austherapiert, sondern macht weiter die gleichen Fehler.
Glauben Sie nicht, dass man auch nach traumatischen Erfahrungen ein befreites und erfülltes Leben leben kann?
Ich denke, dass man auch mit seinen Traumata gut leben kann, wenn man schafft, sich das richtige Umfeld zu formen. Ich finde auch gar nicht, dass das eine pessimistische Sicht der Dinge ist, sondern nur eine ernüchterte. In „Moor“ wird der Gott der individuellen Freiheit durch den pantheistischen ersetzt, die Natur, ein unvergängliches System der Erneuerungen. Hoffnung ist immer auch eine Definitionsfrage: Ist Hoffnung auf das Jenseits gerichtet, auf das Diesseits, auf den Moment? Ist Hoffnung vielleicht überhaupt der Ausweg aus dem Trauma? Hoffnung im Sinne, das Trauma so zu akzeptieren, dass es immer die Möglichkeit zur Veränderung gibt?
Glück ist es also, es zu schaffen, mit seinen Verwundungen zu leben?
Ja, ich glaube schon. Was heute immer mehr vermischt wird, ist Heilung und Wellness. Die Psychiatrie steht immer mehr unter der Anforderung, dass hinten raus ein gutes Gefühl kommen muss. So ist es aber nicht. Heilung heißt nicht gutes Gefühl. Heilung heißt Auseinandersetzung, heißt Schmerz, heißt, sich dem Leben zu stellen und nicht: Du verlässt das Yoga-Studio und fühlst dich gut oder du gehst aus der Therapie raus und umarmst die Welt. Das ist ein Traum, der scheitern muss. Und das macht unglücklich.
Einige der besser erhaltenen Wandmalereien in der Nähe der Nofretete und des Knaben von Xanthen bebildern klassische Ovid’sche Mythen, Sagen der Verwandlung, in denen misshandelt, gestorben und getrauert wird, als sei das die normalste Sache der Welt. Trauma war schon immer der bevorzugte Stoff der Literatur. Seit ihren Anfängen war es eine ihrer wichtigsten Aufgaben, tragische Ereignisse zu verarbeiten, oft stellvertretend für den Leser, scheint es. Geltinger hat „Moor“ ein Kapitel vorangestellt, das stark nach Ovid klingt, ein Märchen von einer Libelle und einem Rochen – nur eine Masche des fein gespannten Netzes aus literarischen und filmischen Verweisen dieses beeindruckenden Romans.
Waren Menschen früher einfach besser darin, von traumatischen Erlebnissen zu erzählen?
Die Geschichten sind die gleichen, glaube ich, die Geschichten werden sowieso immer die gleichen sein. Und da kämen wir noch einmal zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurück, denn mich interessiert nicht die Geschichte, sondern der Erzählansatz. Der Erzählansatz macht die RTL-Geschichte zur RTL-Geschichte und die „Orestie“ zur „Orestie“. Wenn wir die erzählerische Essenz der Tragödie auf ihren Schauwert reduzieren, auf ihre didaktische Effektivität, geht viel Potenzial verloren. Der heutige Anspruch, dass man sich unbedingt heilen muss, um in dieser Welt anzukommen, macht das Traumatische nicht unbedingt erzählenswerter. Wenn man das Trauma vom Poetischen und Magischen trennt, wird es nur noch beängstigender. Da geht es auch um eine Frage von Trost. Vor allem in einer Gesellschaft, die nur aufs Funktionieren aus ist, kann uns die Literatur Angst vor den Dingen nehmen, die unüberwindbar scheinen.