: In der wilden Westtürkei
Nicht nur Badeurlaub, sondern vor allem Wandermöglichkeiten in Natur pur bietet die Region zwischen Bafasee und Latmosgebirge. Zum Beispiel im Davutlar-Nationalpark an der Südseite der Dilek-Halbinsel mit seinem Canyon
VON DIRK ENGELHARDT
Leichter Nebelhauch überzieht vom Süden her den Bafasee. Die Sonne taucht die schroffen Felsen des Latmosgebirges am Westufer in warmes Goldbraun. Kein Anzeichen von Zivilisation trübt den Blick über die Weite der fast spiegelglatten dunkelblauen Seehaut. Fast wirkt es so, als ob jemand ein ruhiges Gebirgstal am Vortag zur Hälfte mit Wasser aufgefüllt hätte. Auf einer Insel im See entdecke ich Ruinen, eine alte Burganlage, die den Eindruck der Unwirklichkeit verstärkt. Die „Truman Show“ hätte hier ein ideales Setting gefunden.
Der Bafasee im Hinterland des lärmigen, kosmopolitischen Bodrum wird von Reiseführern gern als „leicht brackig“ bezeichnet. Vielleicht deshalb ist die Gegend von Touristen weitgehend verschont geblieben. Der 25 Kilometer lange See hat die Ausmaße des Genfer Sees und ist Natur pur. Einzig eine Öko-Ferienclubanlage, deren restaurierte kleine Bauernkaten sich an den Olivenhang schmiegen, bietet Touristen Unterschlupf. Im Schaukasten (der übrigens vorher ein Kühlschrank war, wie mir die türkische Clubchefin, Frau Koch, später erklärt), lese ich: „Die Ferienclubanlage ohne Animation“. Und dieser kurze Satz gibt die Atmosphäre des Club-Dorfes am besten wieder. Es ist ruhig hier.
Ein Stückchen weiter an der Seeuferstraße weist ein rostiges Schild zum Hotel „Turgut“. Der dreistöckige Bau wurde ohne Baugenehmigung errichtet, deshalb untersagten die Behörden kurz daraufhin den Betrieb. Der klobige Betonkasten wurde vor kurzem wieder abgerissen. Die Region um den See, der einst als Fjord Verbindung zum Mittelmeer hatte, war von Karern, Persern, Ptolemäern, Seleukiden, Makedoniern, Pergamesen und Römern besiedelt. Zahlreiche Ruinen, Befestigungsmauern und Burganlagen, verstreut in Pinienwäldchen und Olivenhainen, sind Zeugen dieser Zeit. Erst im 12. Jahrhundert drangen die islamisch-türkischen Seldschuken in das Gebiet ein und errichteten erste Moscheen.
Vom Dörfchen Iassos am Ostufer des Sees startet meine Wandertour ins Latmosgebirge. Erdal, der Bergführer vom Club Natura Oliva, will mir das Kloster der sieben Brüder zeigen, das sich sieben Kilometer bergaufwärts in einem Felsental versteckt. Unterwegs bieten sich tolle Ausblicke auf die urwüchsige Landschaft mit ihren verstreuten Felsbrocken aus Granit, Glimmerschiefer und Gneis. Sie machen den Eindruck, als ob ein Riese in einer Mußestunde vom Berggipfel Weitwurf geübt hätte.
Tief unten liegt der blaue Bafasee, bis auf entferntes Vogelgezwitscher ist es vollkommen still. Erdal erzählt von den sieben Mönchen, die die gewaltige Klosteranlage gründeten. Sie kamen im 9. Jahrhundert von der Sinai-Halbinsel, und wegen der zunehmenden Verbreitung des Islam fanden sie Zuflucht beim Bischof von Herakleia. Die Außenmauern der Burganlage mit Zinnen und Türmen sind noch zu erkennen. Ein wenig abseits befindet sich eine kleine Einsiedlerhöhle, die mit Heiligengemälden und einem Bild von Jesus am Kreuz farbenprächtig ausgeschmückt ist. Nur die Köpfe sind allesamt ausradiert – Muslime dulden keine Abbildungen von Heiligen. In einer Höhle dieser Art hat der Sage nach die Mondgöttin Selene ihren Geliebten, den schönen Hirtenknaben Endymion, in ewigen Schlaf versetzt, damit er nicht altern könne.
Im Tal pflücken Tagelöhner die Baumwolle per Hand. Überall im Tal erstrecken sich Baumwollfelder. Hundert Kilogramm handgeernteter Baumwolle bringen ungefähr 35 Euro, und eine gute Tagelöhnerin verdient etwa 400 Euro, für die Türkei ein akzeptabler Monatslohn. Die Baumwollpflückerinnen wohnen direkt an den Baumwollfeldern in brüchigen Plastikzelten, bis die Ernte vorbei ist. Aus großen Kochtöpfen, die auf offenem Holzfeuer stehen, dampft es – ganze Familien werden hier unter freiem Himmel, nach harter Arbeit, verköstigt.
An der Landstraße nach Milas machen wir auf dem Rückweg einen Abstecher zum Euromos-Tempel, der wie viele antike Schätze noch in wesentlichen Teilen erhalten ist. Genau wie im Apollon-Tempel von Didima, der größten Tempelanlage an der Westküste, befand sich auch hier ein Orakel. Die dorischen Säulen des Tempels ragen in den violett gefärbten Himmel. Die Abendsonne taucht die Szenerie in warmes, rötliches Licht.
Am nächsten Tag fühle ich mich in eine andere Welt versetzt. Erdal verspricht mir „die schönste Tour“, und abends weiß ich, dass er nicht gelogen hat. Er fährt mit mir in den Davutlar-Nationalpark an der Südseite der Dilek-Halbinsel mit seinem Canyon. Die Fahrt mit dem Dolmus führt über sanft geschwungene Olivenhaine, die durch hohe Zypressenreihen geteilt werden. Die Wanderung ist diesmal vergleichsweise bequem – ein breiter Kiesweg schlängelt sich 17 Kilometer, vom Sandstrand beginnend, den Canyon hinauf. Auf halbem Weg, bei einer Rast an einer kühlen Quelle, bietet sich ein großartiges Panorama auf die Insel Samos. Erdal müsste für sie allerdings ein Visum beantragen, denn sie gehört zu Griechenland.
Auf dem Rückweg wird ein auffallend gepflegter Mischlingshund zu unserem Begleiter, er folgt uns den ganzen Rückweg, bis wir am Strand des Naturparks ankommen. Die braun gefärbten Wellen haben kleine Schaumkronen, die Badesaison hat noch nicht begonnen. Vom Ende des Kieselstrands weht ein appetitanregender Duft nach gegrilltem Fisch herüber. Auch wenn es von außen nicht so aussieht, zeigt sich in der kleinen Taverne die türkische Küche von ihrer besten Seite. Als Erstes kommt die Lamm-Kuttelfleck-Suppe, eine türkische Nationalspeise. Draußen am Grill brät Yussuf, der Chef, unterdessen höchstpersönlich fangfrische, kleine Seebarben, in Mehl gewendet, in einer Pfanne mit siedendem Öl. Dazu gibt es eingelegte Zucchini in Joghurtsauce, Reis und Salat mit Tomaten, Zwiebeln und Schafskäse. Abseits der Touristenzentren an der Küste ist das Angebot an Restaurants zwar knapper, die Kost dafür wesentlich schmackhafter.