: Die Becquerel-Bewegung
Tschernobyl war eine Bestätigung aller Befürchtungen. Die Anti-Atom-Bewegung hat den Sprung ins Bürgertum allerdings nicht geschafft
BERLIN taz ■ Der Fallout von Tschernobyl ging nieder und alle Linken, alle Ökos sahen ihre Befürchtungen bestätigt: Atomkraft ist nicht sicher, die Regierung wird alles vertuschen. Tatsächlich reagierten deutsche Behörden in Atomsachen zögerlich, obwohl angesichts der radioaktiven Wolken schnelle Aufklärung Not getan hätte. Vor allem in Bayern ging Regen aus der Ukraine nieder, die Belastungen von Wald und Flur lagen weiträumig jenseits der Grenzwerte. Die CSU-Landräte wollten aber ihre Bauern schützen, erklärten Milch und Essen für unbedenklich. Als sich das als Lüge herausstellte und unabhängige Messstationen und -vereine entstanden, glaubte niemand mehr offiziellen Versionen.
Die Leute nahmen die Sache selbst in die Hand. Wer weiß es noch: Becquerel (Zerfälle pro Sekunde, auch in Curie gemessen), Dosis (gemessen in Röntgen oder Gray) und das eigentlich Wichtigste, die Äquivalenzdosis – das, was die verschiedenen Strahlungsarten im Körper anrichten (heute in Sievert, früher in Rem, „Röntgen equivalent man“). Damals Tagesgespräch in manchen Kreisen. Die Anti-Atom-Bewegung jedoch, wie bei linken Bewegungen in Deutschland üblich, debattierte lieber als sich mit Meßdaten aufzuhalten: Schließlich ging es um den Kampf gegen das System, gegen die Konzerne. Es galt, weitere AKWs im Land zu verhindern; mit Blockaden, mit Rütteln an Bauzäunen.
Angst herrschte natürlich auch im konservativen Lager und bei den Kirchen. Linke Militanz und die bürgerliche Angst vertrugen sich allerdings schlecht. Schon Ende 1986 fragte die taz anlässlich einer Anti-Atom-Konferenz: „Warum hat man es nicht geschafft, die sogenannte Becquerel-Bewegung – also all die Eltern-, Mütter- und Verbraucherinitiativen – in den Anti-Atom-Protest zu integrieren?“ Als Gründe wurde neben einer fehlenden bundesweiten Organsiationsstruktur auch die Verliebtheit in die Militanz genannt. Die Bewegung erreichte jedenfalls nie die Breite, die sie vereint mit dem bürgerlichen Lager hätte haben können.
Noch heute ist bei Wild und Pilzen vor allem in Bayern Vorsicht geboten: Noch immer werden teilweise überhöhte Becquerel-Werte gemessen, laut der Stiftung Warentest immer noch über 1.000 Becqurel bei Pilzen aus dem Münchner Umland. Die BI um die Ecke gibt es längst nicht mehr. Wer misstrauisch ist, kann sich aber beim Umweltinstitut München informieren. REM