Der Wildwuchs der Gefühle

Hippen empfiehlt In „Vorsicht Sehnsucht“ von Alain Resnais wird aus einem trivialen Taschendiebstahl eine universelle Geschichte von Liebe, Tod und dem Fliegen

Die extreme Stilisierung wirkt nie manieriert – stattdessen ist sie ein Zeichen der souveränen Freiheit, mit der Resnais hier mit den Formen spielt.

Von Wilfried Hippen

Das Zögern ist schwer zu filmen. Es ist eine Leerstelle, die fast jeder Regisseur oder spätestens der Cutter aus einem Film herauskürzt, weil die Entscheidung und deren Konsequenzen ja die meisten Geschichten vorantreiben. In Alain Resnais neuem Film, der im Original viel rätselhafter und deshalb schöner „Les herbes folles“, also „Die verrückten Kräuter“ heißt, wird ständig gezögert.

Soll die Heldin Marquerete Muir den Raub ihrer Handtasche auf offener Straße so schnell wie möglich der Polizei melden? Da lässt sie sich doch lieber ein heißes Bad ein und verträumt den Abend: Morgen ist auch noch ein Tag. Und soll Georges Palet, der ihre vom Dieb weggeworfene Brieftasche in einer Tiefgarage findet, sie bei der Polizei abgeben? Er ist schon im Revier, aber dort feiern die Beamten im Hinterzimmer einen Geburtstag, und so wendet sich der immer noch unentschiedene George zum Gehen, wird aber von einem Polizisten auf der Straße eingeholt. Und nun zögert dieser: Warum kommt dieser Herr und geht dann wieder, soll er ihn ziehen lassen oder zurück in die Wache drängen und seine Personalien aufnehmen? Aus solchen Momenten besteht im Grunde der ganze Film: die Menschen sind sich ihrer Gefühle nicht sicher, und manchmal sprießen sie dann eben wie “verrückte Kräuter“ in überraschende und durchaus gefährliche Richtungen.

George ist zum Beispiel von Marguerite fasziniert, weil er in ihrer Brieftasche zwei völlig unterschiedliche Fotos von ihr sowie ihren Pilotenpass gefunden hat. Er selber liebt die Fliegerei und so ruft er (natürlich nach langem, in Echtzeit gezeigtem Zögern) ihre Nummer an, sucht nach ihrer etwas schroffen Zurückweisung gar ihre Adresse und wird langsam zu dem, was im modernen Sprachgebrauch ein Stalker ist. Nur würde Resnais einen solch banalen Begriff nie benutzten, und da seine Sprache der Film ist, wird uns auch der triviale Thriller, der gewöhnlich aus einer derartigen Ausgangsituation erwachsen würde, erspart.

Stattdessen wird die Geschichte immer absurder – nicht nur in seinen erzählerischen Wendungen sondern auch in der Art, wie sie inszeniert wird. George macht als Erzähler im Off ominöse Andeutungen, die ihn als einen gefährlichen Gewalttäter erscheinen lassen, aber kein Bild und keine Regung auf dem Gesicht des Darstellers André Dussolier scheint diesen Charakterzug zu bestätigen. Und das moderne Paris mit seine luxuriösen Wohnungen und sündhaft teuren Sportwagen, in dem die Geschichte angesiedelt ist, wirkt immer ein wenig zu aufgeräumt, ja arrangiert. Alles ist in leuchtende Signalfarben getaucht und Resnais scheint eine eigene Farbenlehre entwickelt zu haben, so sehr bestimmen sein Rot, sein Blau und sein Gelb jeweils die Atmosphäre.

Die Dialoge wirken eher geschrieben als gesprochen, denn Resnais versucht gar nicht zu kaschieren, dass er den Roman „L’Incident“ von Christian Gailly adaptiert hat. Aber die Stilisierung wirkt nie manieriert – sie ist ein Zeichen der souveränen Freiheit, mit der Resnais hier mit den Formen spielt.

In einer der schönsten Sequenzen sieht man einfach nur den Flug- und Filmnarren George, der sich in einem kleinen Kino den Fliegerfilm „Die Brücken von Tokyo-Ri“ mit William Holden und Grace Kelly ansieht. Er ist längst nicht so gut, wie George ihn aus seiner Kindheit erinnert, aber selbst ein billiges B-Movie erzeugt das Gefühl, das Resnais nach dem schönen Satzanfang „Wenn man aus dem Kino kommt...“ einzufangen versucht. Für den inzwischen 88-Jährigen sind Filme immer noch „Verrückte Kräuter“.