: „Das Leben ist Kampf“
Als erstes deutsches Psychiatrie-Opfer siegte Vera Stein vor dem EU-Gerichtshof für Menschenrechte. Nun möchte sie die Kliniken verklagen. Doch die Bremer Justiz versagt ihr die Prozesskostenhilfe
von Susanne Gieffers
Inzwischen muss sie mehrmals täglich an eine Maschine, die ihr den Schleim aus der Lunge saugt. Nachts schläft sie unter einer Sauerstoffmaske. „So wie immer“ antwortet Vera Stein auf die Frage, wie es ihr geht. Sie sitzt im Rollstuhl, kann sich kaum bewegen und klagt über starke Schmerzen am Tag und in der Nacht. Ihr Leben beschreibt sie als „Kampf“. In diesem Kampf hat sie zwar einen Sieg errungen. Aber Vera Stein lebt längst in neuen Gefechten. Sie ist Psychiatrie-Opfer. Das erste in Deutschland, das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Recht bekam.
Das war vergangenen Sommer und ist der Sieg in Vera Steins Leben. Sie bekommt 75.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen – nun will sie die Kliniken, gegen die sie zuvor gescheitert ist, erneut zur Rechenschaft ziehen. Doch das Oberlandesgericht (OLG) in Bremen hat jetzt ihren Antrag auf Prozesskostenhilfe abgewiesen. Die Begründung: Das Bremer Urteil vom Jahr 2000 sei rechtskräftig und der Straßburger Sieg ändere daran nichts. Antrag abgelehnt. Ohne Prozesskostenhilfe aber ist für Stein eine Wiederaufnahme unmöglich.
„Schlamperei“ wirft der Berliner Rechtsprofessor Hans-Peter Schwintowski den Bremer Richtern vor: Sie hätten neueste Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht berücksichtigt. 2,8 Millionen Euro Schadenersatz müsste das OLG der heute 47-Jährigen eigentlich zusprechen, hat Schwintowski in Report Mainz ausgerechnet. Steins Anwälte legen Rechtsmittel ein, doch jetzt, einen Monat später, steht fest: Das Gericht bleibt bei seiner Haltung. Vera Stein hat in Bremen keine Chance.
1977 wird Vera Stein von ihrem Vater aus dem Hessischen nach Bremen verfrachtet. In die Klinik Dr. Heines. Die Diagnose: Hebephrenie, „jugendliches Irresein“. Gestellt wurde die Diagnose Jahre zuvor in Frankfurt/Main, 15 Jahre war Stein da. Als ihr Vater sie nach Bremen bringt, ist sie bereits 19, volljährig – doch weder willigt sie in ihre Einweisung ein noch liegt ein richterlicher Unterbringungsbeschluss vor.
Hier wird zwei Jahre lang fortgesetzt, was zuvor in Frankfurt begonnen wurde: Vera Stein bekommt Psychopharmaka in hohen Dosen, 17 verschiedene Sorten hat sie in ihren Akten später gezählt. Fatal für die junge Frau, die als Kind Kinderlähmung hatte. Viele der Medikamente, die ihr hier teilweise mit Gewalt eingeflößt werden, hätte sie mit ihrer Vorerkrankung nie nehmen dürfen. Gutachter haben bescheinigt, dass diese Mittel ihr vorbelastetes Nervensystem weiter geschädigt haben.
Sie wird häufig brutal gefesselt, mal ans Bett, mal an die Heizung, während Pfleger und Schwestern über die Frau am Boden gelacht hätten – so beschreibt es Stein in ihren Büchern „Abwesenheitswelten“ und „Menschenfalle Psychiatrie.“ Als Vera Stein zu fliehen versucht und es bis zum Bremer Hauptbahnhof schafft, wird sie von der Polizei in Handschellen zurück zur Heines-Klinik gebracht. Wie eine Verbrecherin.
Wegen all dem hat Vera Stein die Bremer Klinik verklagt. Sie sei niemals psychotisch, nur eben aufmüpfig gewesen, sagen ihre Gutachten. Ihr autoritärer Vater habe die Tochter in die Psychiatrie entsorgt. Dass Vera Steins Mutter damals an einer Psychose erkrankt war, mag die Ärzte beeinflusst haben.
Im Jahr 2000 scheitert Vera Stein in Bremen: Zwar gibt ihr in erster Instanz das Landgericht Recht, dann aber kassiert das OLG dieses Urteil. Es folgt nicht Steins, sondern dem vom Gericht bestellten Gutachter, einem Münsteraner Psychiatrieprofessor. Der bezeichnet die Medikamentendosierung in der Bremer Klinik als „üblich“, die Zustände in der Psychiatrie als damals normal: „Das war halt so.“ Zudem, findet das OLG, dürfe von einem „stillschweigenden Einverständnis“ der Patientin in ihre Behandlung ausgegangen werden.
Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt fest, dass Vera Stein der Freiheit beraubt worden war. Während in Straßburg aber die Bundesrepublik die Beklagte war, weil diverse staatliche Stellen Steins Schicksal beeinflusst hatten, sollte es jetzt in Bremen erneut gegen die eigentlich Verantwortliche gehen: die Heines-Klinik. Das hat das OLG nun verhindert – vorerst. Steins Anwälte, Georg Rixe aus Bielefeld und Ilse Dautert aus Oldenburg, haben Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Vera Stein könne eine Wiederaufnahme ja von ihrem Straßburger Schmerzensgeld bestreiten, hatten die Bremer Richter noch mitgeteilt. Von dem Geld also, das ohnehin nur kurz reichen wird, um all die Kosten für Steins kranken Körper zu tragen.
Vera Stein wurde nach ihrer „Odyssee“, so nennt sie die Jahre in der Psychiatrie, von der Familie einer Mit-Patientin aufgenommen und lernte technischen Zeichnerin. Doch dann kam das „Post-Polio-Syndrom“: die Folgen der Fehlbehandlung nach der Kinderlähmung.
Stein lebt heute von einer kleinen Erwerbsunfähigkeitsrente in einer Souterrainwohnung im Taunus. In der Wohnung ist wenig bis auf Bett, Schreibtisch, Computer und jede Menge Papier über ihren Fall. „Sie ist bitterarm“, sagt ihre Anwältin Ilse Dautert. Von ihrem Schmerzensgeld hat Vera Stein noch 60.000 Euro. „Beschämend“ findet sie die Idee der Bremer Richter, diese Summe dafür ausgeben zu müssen, auch finanziell endlich Recht zu bekommen. Aber das kennt sie schon. „Das Leben“, sagt Vera Stein, „ist Kampf.“