: „Dieses Spiel kann ganze Orchesterpaläste zerstören“
TAG UND NACHT Rufus Wainwright über sein neues Album „All Days are Nights: Songs for Lulu“, Punk, William Shakespeare und die Notwendigkeit, den inneren Teenager nach außen zu kehren
■ Pop: geb. 1973 in Rhinebeck, New York. Eltern Folksänger. 1998 erstes Album (Produzent: Van Dyke Parks). 2001 Drogenentzug. 2003 und 2004 erscheinen die Alben „Want One“ und „Want Two“.
■ Hochkultur: 2008 inszeniert er mit Robert Wilson Shakespeare-Sonette am Berliner Ensemble. Beginn der Arbeit an seiner Oper „Primadonna“.
■ Neues Album: „All Days are Nights: Songs for Lulu“, ab 30. 4. bei Decca/Universal.
INTERVIEW JULIAN WEBER
taz: Herr Wainwright, auf Ihrem Debütalbum von 1998 und Ihrem neuen Werk „Lulu“ sind jeweils Ihre Augen abgebildet. Was sagen Ihnen Ihre Augen damals und heute?
Rufus Wainwright: Auf dem aktuellen vom Künstler Douglas Gordon fotografierten Cover blickt das Auge deutlich müder. Und weniger unschuldig.
„All Days are Nights: Songs for Lulu“ behandelt die Liebe und den Tod, und es gibt drei Songs, die auf Shakespeare-Sonetten basieren. Was ist das verbindende Element?
Wenn das Album einen dritten Titel hätte, würde er „Five Intense Chicks“ (fünf anstrengende Zicken“) lauten. Auf dem Album geistern viele Frauen herum: Die Primadonna aus meiner Oper, Shakespeares „dark lady“, meine Mutter, meine Schwester Martha und „Lulu“. Das sind zusammengenommen auch die vielen weiblichen Seiten von mir.
Die Shakespeare-Sonette strahlen in punkto Intensität auf die anderen Songs ab. Finden Sie? Klar, wenn man Shakespeare in die Gleichung bringt, springen alle anderen Elemente darauf an. Als ich mir neulich eine Inszenierung von „Romeo und Julia“ angesehen habe, wurde mir dabei schlagartig bewusst, wie sehr Shakespeare die Unterschiede zwischen Tag und Nacht, zwischen hell und dunkel verwischt. Und deswegen ist der rote Faden meines neuen Albums die verrinnende Zeit und wie sie ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten annimmt, etwa wenn man sich in einer dramatischen Situation befindet, sich mit einer Oper auseinandersetzt oder mit Shakespeare und es nur darum geht, wie die Geschichte weitergeht, ob am Tag oder in der Nacht. Meine Musik handelt letztendlich davon, aus der Zeit zu fallen.
Was hat Sie an Shakespeares Sprache gereizt?
Sein Englisch ist sehr modern. Die Symbolik, die Worte, aber auch sein Blick auf die Welt. Er spricht in einer immerwährenden Gegenwart. Das ist Gegenkultur und Punkrock, wie sexualisiert seine Sprache ist. Egal, worüber er schreibt, er ist der Welt immer zwei Schritte voraus. Ich habe mich von seinen Worten leiten lassen.
Shakespeare wendet sich an die Liebenden und die Liebhaber der Poesie. Wie ist das bei Ihnen?
Der Grund, warum ich das Album „All Days are Nights: Songs for Lulu“ getauft habe ist der, dass ich Lulu evoziere, immer wenn ich etwas verwundbar bin, mich einsam fühle oder einfach nur von mir selbst gelangweilt bin. Lulu vereint in ihrer Figur die Geister meiner Vergangenheit, als ich noch ein Freak war und mir keine Gedanken machen musste über das Älterwerden oder den Tod meiner Eltern. Als mein Leben einfach nur sorglos war. Ich denke, dieser Spirit ist immer noch ziemlich lebendig in mir. Das ist sehr verbreitet in der schwulen Community. Jeder weiß, dass es viele durchgedrehte Diven gibt, die so tun, als seien sie 21, obwohl sie 71 sind. Das ist großartig, keine Frage. Aber es gibt einen Teil von mir, der Verantwortung übernommen hat, in einer festen Beziehung ist, eine Eigentumswohnung besitzt und Geld verdient. Trotzdem, dieser durchgeknallte Teenager läuft weiter draußen rum. Meine neuen Songs wenden sich an diese Person und untersuchen seine Emotionen. Ich drücke sie lieber aus, als so zu tun, als wäre alles perfekt.
„Lulu“ stammt von dem expressionistischen Münchner Dichter Frank Wedekind, der damit eine Frau porträtierte, die für ihre Zeit zu modern war. Was nehmen Sie aus der Vorlage mit?
Lulu ist eine Kraft, die in uns allen existiert. Wir huldigen ihr und sind von ihr verflucht. Es geht um den alten Widerspruch, dass einen das, was man am meisten liebt, tötet. Ich finde es essenziell, diese Kraft in mir zu identifizieren. Ich glaube nicht, dass jemand diesen Charakterzug besser porträtiert hat als Frank Wedekind. Außer Edie Sedgwick vielleicht, aber sie war keine Fantasiegestalt. Sie war ein echtes Opfer von Warhols Factory. Sedgwick ist die ultimative Verkörperung dieses dunklen Feuers.
Ich habe mich immer gefragt, wer Licht und Dunkelheit ähnlich radikal in seinen Songs verhandelt wie Sie und bin bei Scott Walker gelandet.
Viele bringen Scott Walker mit meiner Musik in Verbindung. Ich habe mich aber noch nicht näher mit ihm beschäftigt. Ihm wird es wahrscheinlich genauso ergehen. Vielleicht sind wir zu ähnlich und beäugen uns deshalb aus verschiedenen Ecken des Zimmers.
Was bedeutet Ihnen mehr: Hochkultur oder Pop? Na ja, von Hochkultur konnte ich mich bislang besser ernähren als von Chips und Popcorn. Es wird schon seine Gründe haben, warum Limonadengetränke in den USA Popdrinks genannt werden, sie greifen schließlich die Zähne an. Hochkultur hat mir geholfen, aus psychisch fordernden Situationen herauszukommen. Wenn ich das sage, dann heißt das aber auch, dass ich meine Karriere nie völlig in den Dienst der Hochkultur gestellt habe. Ich bewege mich zwar in ihren Sphären, treffe viele bedeutende Künstler, die hart arbeiten, die sehr viel lernen mussten, aber irgendwie auch in ihren Strukturen gefangen sind. Mir stehen durch meine Popsozialisation ganz andere Türen offen. Pop bedeutet mir Freiheit, Hochkultur ist Lebensunterhalt.
Der Song „Give me what i want and give it to me now!“ hat Anklänge an Duke Ellington. Jazz also, etwas, was bisher kaum bei Ihnen so deutlich zu hören war.
Ganz ehrlich: Duke Ellington hat immer einen großer Einfluss auf mich ausgeübt. Ich finde Ellingtons Musik schon fast klassisch, gerade in der Orchestrierung und der Art, wie er Melodien nuancieren konnte.
Wie schwierig war es, ein Album nur mit Piano und Stimme aufzunehmen?
Mein Privatleben war während der Aufnahmen so turbulent, dass ich erst allmählich begreife, was alles passiert ist. Ich bin jedenfalls glücklich, dass mein Klavierspiel Fortschritte gemacht hat. „Songs for Lulu“ hat mir ermöglicht, meine wilde Seite am Piano eingehender zu untersuchen, von der ich bis jetzt nur ahnte, dass sie existiert.
Welche Klangsituation schwebte Ihnen als Set-up für Gesang und Piano vor?
Eine wichtige Lektion habe ich von der Sängerin Brigitte Fassbaender gelernt, die meine Lieblingsversion von Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ eingesungen hat. Sie sagte einmal, es gebe bei der „Winterreise“ Sekundenbruchteile, die profunder sind als ganze Wagner-Opern. Diese kurz aufleuchtende Tiefe und Kraft, bange Momente von Intensität, Trauer und Liebe kommen im Zusammenspiel von Klavier und Gesang sehr gut zur Geltung. Dieses Zusammenspiel kann ganze Orchesterpaläste zerstören.
Es gibt einen Song, der Ihrer Schwester, der Sängerin Martha Wainwright, gewidmet ist. Darin geht es um den Krebstod Ihrer Mutter Kate McGarrigle. Ist das nicht Wahnsinn, als Performance-Artist sein Innerstes nach außen zu kehren und vor einem großen Publikum zu verhandeln?
Nein, zwischen mir und meiner Künstlerperson gibt es keine Grenzen. Ob auf der Bühne oder Backstage: Ich bin derselbe. Ich bewundere Performer, die diese Marlene-Dietrich-Erfahrung auf die Bühne zaubern können, bei der alles bei jedem Konzert immer an der gleichen Stelle sitzt und die Gesten genau bedacht ist. Das kann ich nicht, weil ich mir viel mehr Gedanken über meine Musik mache.
Welche Rolle spielt Musik in Ihrer Familie? Am wichtigsten ist, dass man die Gefühle erst in Worte fassen muss, damit sich die Menschen dazu verhalten. Sobald man einen Song geschrieben hat, fühlen sich die Menschen von dem Wahrheitsgehalt angezogen. Wenn man wie ich über die eigene Familie Songs schreibt, weiß das Publikum, was los ist. Das setzt mich als Komponisten wiederum in die Perspektive zu wissen, wo ich bin.
Wie viel Traditionalismus hat das Wort Familie für Sie? Gar keinen. An meiner Familie war nichts konventionell. Vielleicht die Seite meines Vaters Loudon Wainwright III, der nun wieder verheiratet ist und ein kleines Kind hat. Wir Kinder sind bei meiner Mutter in Montreal aufgewachsen, sie war ein echter Bohemien und lebte anders als die Nachbarn. Gott sei Dank.
Warum beginnen Sie Ihr neues Album mit einer Ode an New York?
New York ist meine Heimatstadt. Ich lebe dort mit meinem Freund Jörn Weissbrodt, wir haben uns ein Haus am Meer gekauft und beschlossen, New York zu unserem Lebensmittelpunkt zu machen. Ich bin sehr oft auf Tournee, kann also nicht so oft in New York sein, wie ich mir wünsche.
Die alte Garde der Songwriter dankt ab, sehen Sie ein Bedürfnis, Ihre Errungenschaften weiterzutragen, oder rebellieren Sie eher gegen diese Tradition? Ich finde, dass man die Kultur als Ganzes voranbringen muss. Vor allem in den USA. Obama ist jetzt US-Präsident, aber wir brauchen eine Renaissance im ganzen Land. Wenn es etwas bringt, würde ich dafür sogar im Weißen Haus vorsingen.