: Und eins für den Haken
SPENDE Die Özers sahen es beim Bäcker in Istanbul: Wer ein Brot kauft, zahlt noch eins mit – für den, der wenig Geld hat. Jetzt guckt man bei den Özers ab
BÄCKER SÖREN ÖZER ÜBER EINE FRAU, DIE NACH „BROT AM HAKEN“ FRAGTE
VON FRIEDERIKE GRÄFF
Das Prinzip ist unglaublich einfach. Drei Haken an der Wand, mit Bons daran, an einem ausgedienten Reklameschild. Die Özers haben es aufgehängt, als eine Frau in ihrer Bäckerei die 25 Cent für ein Brötchen nicht zusammenkratzen konnte. Da erinnerten sich Sören und Hekmet Özer an eine Bäckerei in Istanbul, in der an einem Haken ein Beutel mit Brot hing. Wer kein Geld hatte, konnte sich eines kostenlos herausnehmen. Und wer Geld hatte, der kaufte Brot für sich und gab eines für den Beutel aus. Es ist einige Jahre her, dass Sören und Hekmet Özer das letzte Mal in der Türkei waren. Das Brot am Haken haben sie nicht vergessen.
Sören ist 61 Jahre alt und erinnert mit Jeans und Pferdeschwanz kaum an den traditionellen Bäcker. Seine Frau Hekmet, die fünf Jahre jünger ist, steht in einem roten Sweatshirt hinter der Theke und ruft die Antwort herüber, wenn ihm etwas nicht einfällt. „Wandsbäcker“ heißt ihr Geschäft, nach dem Stadtteil. Wandsbek ist nicht das, was man in Hamburg einen sozial schwachen Stadtteil nennen würde. Und trotzdem ist Sören Özer die Armut immer mehr aufgefallen: die Rentner, die mit 450 Euro auskommen müssen, die Leute, die fragen, ob sie für einen Euro ein Brot bekommen. „Die Deutschen müssen in den Spiegel sehen und sich sagen: Es geht uns nicht mehr so gut“, meint er.
Viele schämen sich dafür
Diejenigen, denen es nicht so gut geht, schämen sich dafür. Zumindest viele derjenigen, die in die Bäckerei der Özers kommen und ein „Brot vom Haken“ haben möchten. Die meisten warten, bis der Laden leer ist, bevor sie fragen. Einer hat seinen Arbeitslosenausweis vorlegen wollen, um zu zeigen, dass er tatsächlich bedürftig ist. Und vor ein paar Tagen kam eine Frau vorbei, „die hat sich so geschämt, dass sie fast geheult hat“, sagt Sören Özer. „Ich habe seit gestern nichts gegessen“, sagte sie. Nachdem sie gegessen und getrunken hatte, fragte sie, ob sie beim Abwaschen helfen könne, aber Hekmet Özer hat das abgelehnt und ihr stattdessen belegte Brötchen mitgegeben. Die Frau war jung, vielleicht Ende 30, die Armut hat man ihr nicht angesehen.
„In der Türkei würde man sich nicht so schämen“, sagt Sören Özer. Aber der Grund dafür ist bitter. Dort sei man die Armut gewohnt. In Deutschland hat Sören Özer die Armut in den vergangenen 25 Jahren oft nicht bemerkt. „Ich habe die Bettler und Penner gesehen, aber man läuft einfach an ihnen vorbei.“ Jetzt, wo er Brot verkauft, „einen Grundnahrungsstoff“, merkt er es. Im Jahr 2006 haben die Özers ihre Bäckerei eröffnet. Da war er als IT-Experte frühpensioniert und sie arbeitslos. „Uns fiel die Decke auf den Kopf“, sagt Özer. Seine Frau hat einmal in einer Bäckerei gearbeitet, das genügte ihnen, um es mit einem eigenen Laden zu versuchen.
Nur ein einziges Mal hatten die Özers das Gefühl, dass jemand allzu viel nehmen wollte. Da fragte ein Paar nach Kuchen und Kaffee, ob es nun noch Brot mitnehmen könne. So sei es nicht gedacht, sagten sie. An Bons herrscht kein Mangel. Schon am Morgen hängen drei am Haken für Brot, zwei an dem für Kaffee und einer an dem für Kuchen. Auf den Stehtischen stehen kleine Aufsteller, die erklären, wie das Prinzip funktioniert. Die Leute spenden querbeet, die Betuchten genauso wie die weniger Betuchten. Ein Kunde aus Norderstedt, der nur einmal pro Monat vorbeikommt, gibt jedes Mal zehn Euro. Eine Frau, die einen Artikel über das „Brot am Haken“ gelesen hat, schickte den Özers einen Brief: „Das finde ich gut“, schrieb sie, „ich möchte mich daran beteiligen“ und legte zwanzig Euro dazu. Den Brief haben die Özers eingerahmt und an die Wand gehängt. Daneben hängen weitere Artikel.
Die meisten Anrufe kamen, nachdem ein Kirchenadventskalender über das „Brot am Haken“ schrieb. Bäckereien aus Süddeutschland wollten wissen, wie das funktioniert, eine Bäckerin sagte den Özers, dass sie die Idee großartig fände, aber nicht glaube, dass es in ihrem Villenviertel klappen würde, und eine Floristin überlegte, ob es wohl auch mit Blumen machbar sei. Das ist in gewisser Weise eine Rückkehr zu den Ursprüngen der Idee, denn eigentlich geht es da nicht unbedingt um Lebensnotwendiges, sondern darum, dass Menschen ohne Geld an etwas Erfreulichem teilhaben.
Nachahmer in Hanau
Der türkische Bäcker, bei dem die Özers das „Brot am Haken“ gesehen haben, hatte in Neapel erlebt, dass in einer Bar Kaffee ausgegeben wurde: der „café sospeso“, der „Aufgehobene“. Wer einen Kaffee trinkt, zahlt einen zweiten, den ein Gast ohne Geld bekommt. Im Internet ist zu lesen, dass diese Tradition heute nicht mehr so verbreitet sei. Sollte das stimmen, liegt es wohl nicht daran, dass die Leute nicht spenden. Sondern an der Scham der Bedürftigen. Vielleicht auch daran, dass man sie ungern bei sich hat. In Hamburg haben andere Bäcker nicht verstanden, warum die Özers die Haken bei sich aufgehängt haben. Dann stehen doch die Armen bei euch herum, sagten sie. „Na und“, sagt Hekmet Özer. „Dann bleiben sie eben eine Viertelstunde und gehen dann wieder“.
In anderen Städten ist man nicht so furchtsam. Die Martin-Luther-Stiftung hat in sechs ihrer Cafés rund um Hanau das „Brot am Haken“ eingeführt, weil die Bewohner der Altenheime teils sehr wenig Geld haben. Anfangs zögerten die Leute, nach den Bons zu fragen, aber nachdem die Pfarrerin ihnen gut zugeredet hatte und man sie ihnen einfach zusteckte, haben sie begonnen, das Geschenk anzunehmen.
„Ich freue mich, wenn wir einen Stein ins Rollen gebracht haben“, sagt Sören Özer. „Hoffentlich überrollt er das ganze Land“.