: Die Kinder von damals
GEFANGENE Hier haben sie das Schlimmste erlebt: ihre Kindheit. Frühere Häftlinge besuchen Konzentrationslager
■ In Deutschland und den besetzten Gebieten existierten 2.000 Konzentrationslager, KZ-Außenlager und Arbeitslager. Mit dem Vorrücken der Alliierten endete für Hunderttausende Überlebende die schlimmste Leidenszeit. Die wichtigsten KZ, die bis zum Kriegsende existierten, waren:
■ Auschwitz (Polen): KZ-Stammlager und KZ Monowitz, Vernichtungslager in Birkenau. Errichtet zwischen 1940 und Ende 1942. Befreit von sowjetischen Truppen am 27. Januar 1945, die noch 7.650 Gefangen vorfanden. 1,2 bis 1,6 Millionen Ermordete.
■ Bergen-Belsen (Niedersachsen): Aufenthaltslager und später Konzentrationslager. Errichtet ab April 1943. Befreit von britischen Truppen am 15. April 1945, die 60.000 Lebende vorfanden, von denen 28.000 kurz darauf verstarben. Etwa 70.000 zuvor Ermordete.
■ Buchenwald (Thüringen): Konzentrationslager, gegründet im April 1937. Befreit von US-Truppen am 11. April 1945, die 21.000 Gefangene fanden. Etwa 250.000 Ermordete.
■ Dachau (bei München): Konzentrationslager. Gegründet im März 1933. Befreit von US-Truppen am 29. April 1945, über 40.000 Ermordete.
■ Flossenbürg (Bayern): Konzentrationslager. Gegründet 1938. Befreit von US-Truppen am 23. April 1945, die 1.600 Gefangene vorfanden. Mindestens 30.000 Ermordete.
■ Mauthausen (Österreich): Konzentrationslager. Gegründet 1938. Befreit von US-Truppen am 4. Mai 1945, die einige Tausend Gefangene vorfanden. Etwa 119.000 Ermordete.
■ Mittelbau-Dora (Thüringen): Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Gegründet 1943 zum unterirdischen Bau von V1- und V2-Raketen. Befreit von US-Truppen am 11. April 1945. Etwa 20.000 Ermordete.
■ Neuengamme (bei Hamburg): Ursprünglich Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Gegründet 1938. Befreit am 2. Mai 1945 von britischen Truppen, die das Lager leer vorfanden. Etwa 40.000 bis 55.000 Ermordete.
■ Ravensbrück (Brandenburg): Frauen-Konzentrationslager. Gegründet 1939. Befreit durch sowjetische Truppen in der Nacht vom 29. auf den 30. April 1945, die dort noch 3.500 Häftlinge vorfanden. Etwa 28.000 Ermordete.
■ Sachsenhausen (Brandenburg): Konzentrationslager. Gegründet 1936. Befreit durch die sowjetischen Truppen am 27. April 1945, die dort etwa 3.000 Überlebende vorfanden. Vermutlich 40.000 Ermordete.
■ Stutthof (Polen): Zunächst Zivilgefangenenlager, ab November 1941 Sonderlager der SS, von Januar 1942 an Konzentrationslager. Befreit durch die sowjetischen Truppen am 1. Mai 1945, die dort nur noch einige hundert Häftlinge vorfanden. Etwa 65.000 Ermordete.
■ Theresienstadt (Tschechien): Ghetto ähnlich einem Konzentrationslager. Gegründet 1941. Befreit durch sowjetische Truppen am 8. Mai 1945, die dort rund 17.000 Häftlinge vorfanden. Etwa 33.000 Ermordete.
VON MARK MÜHLHAUS (FOTOS) und KLAUS HILLENBRAND (TEXT)
Alte, uralte Frauen und Männer kommen einmal im Jahr dorthin zurück, wo sie einst die schlimmsten Leiden durchstehen mussten. Sie sind die ehemaligen Insassen der Konzentrationslager. Seit Jahrzehnten sehen wir, wie sie – manche in Häftlingskleidung – in die Kameras schauen. Weil sich diese Bilder Jahr für Jahr wiederholen, scheinen sie alterslos. Doch das täuscht. Die allermeisten Überlebenden, die 1945 25 bis 35 Jahre alt waren, sind in den letzten Jahrzehnten verstorben. Viele derjenigen, die heute die Stätten der Nazi-Verbrechen besuchen, waren damals noch Kinder.
„Kleinere Kinder wurden auf alle Fälle vernichtet, da sie aufgrund ihres Alters nicht arbeitsfähig waren“, erklärte nach dem Krieg Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz. Filip Müller arbeitete im Sonderkommando von Auschwitz-Birkenau. Er berichtete: „Oberscharführer Moll nahm das Kind von der Mutter weg, hat es weggetragen, was ich gesehen habe im Krematorium 4, wo es zwei große Gruben gegeben hat. Er hat die Kinder hineingeworfen in das kochende Fett von diesen Leuten.“ Viele Kinder starben schon in den Ghettos im Osten oder auf den Transporten. Noah Zabludowicz, Zeuge im Eichmann-Prozess: „Einmal sah ich einen SS-Offizier, der eine jüdische Mutter auf der Straße höflich ansprach, sie möge ihn versuchen lassen, ihr weinendes Baby zu beruhigen. Mit skeptischem Blick und zitternden Händen übergab ihm die Frau das Kind, woraufhin der Nazi das Köpfchen des Babys an der scharfen Kante des Rinnsteins zerschmetterte.“
Es existieren keine Statistiken über die Zahl der ermordeten Kinder, doch Historiker gehen davon aus, dass allein zwischen einer und anderthalb Millionen jüdische Heranwachsende von den Nazis ermordet worden sind.
Wer als Kind in ein KZ kam, galt in der Regel als „arbeitsfähig“, also als nützlich im Sinne der Nazis. So wie Agnes Sasson, die als Elfjährige aus Budapest ins KZ Dachau deportiert wurde. Sie erinnert sich: „Mein Überleben verdanke ich zweifellos der Tatsache, dass ich mich für vierzehn ausgegeben hatte. Ich sprach fließend Deutsch und konnte arbeiten.“ In Buchenwald war im Dezember 1944 jeder dritte Häftling jünger als 21 Jahre. Bei der Befreiung fünf Monate später zählten die Amerikaner noch 904 Kinder und Jugendliche.
Lisa Mikova, Helga Holesovska und Eva Stichova (v. r. n. l.) aus Prag waren in Flossenbürg inhaftiert. Sie wurden nach Mauthausen deportiert
Stephane Hessel, ehemaliger Häftling aus Frankreich. Zu sehen auf einer Veranstaltung von Überlebenden des KZ Buchenwald bei Weimar
Stella Nikiforowa aus Belgien, geboren 1939. Sie wurde mit ihrer Mutter als 4-Jährige in Ravensbrück inhaftiert
Aleksander Laks, geboren 1928, lebt in Brasilien. Wurde von Auschwitz aus ins KZ Flossenbürg deportiert. Er überlebte als Einziger seiner Familie
Sergio Paletta, geboren 1925, wurde als Widerstandskämpfer in Italien festgenommen und in ein Außenlager des KZ Flossenbürg deportiert
Ed Carter-Edwards aus Kanada, ehemaliger Häftling im KZ Buchenwald. Er weint bei der Kranzniederlegung während der Gedenkveranstaltung
Ingelore Prochnow, geboren 1944 im KZ Ravensbrück. Hier auf einem Treffen von ehemaligen Häftlingen in der Gedenkstätte Ravensbrück
Eine Überlebende aus Polen zeigt ein Bild von sich, aufgenommen kurz vor ihrer Deportation in das KZ Ravensbrück
Raymonde Métra, französische Überlebende, war als Kind im KZ Ravensbrück. Sie sitzt auf den Stühlen, die für die Gedenkveranstaltung am nächsten Tag aufgebaut sind
Ausstellung in der Gedenkstätte Flossenbürg. Auf der Anzeige sieht man, aus welchen Ländern die 100.000 Häftlinge nach Flossenbürg deportiert wurden
In einigen Konzentrationslagern gelang es Häftlingen, Kinder vor den Nazis zu verstecken. In Ravensbrück setzten die inhaftierten Frauen alles daran, sie bemühten sich sogar, sie illegal in einer Schule zu unterrichten. „Wir schworen uns, alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um die Kinder zu retten“, schrieb die „Blockälteste“ Lisa Ulrich nach der Befreiung. Im Ghetto Theresienstadt existierte ein von den Nazis zynisch „Familienlager“ genannter Komplex. Etwa 15.000 Kinder passierten Theresienstadt. Nur 100 überlebten.
Und so unglaublich es klingen mag, manche der Kinder spielten. In den Ghettos im Osten versuchten die Erwachsenen, den Kindern Abwechslung zu verschaffen. Mancherorts entstanden Schaukeln und Wippen. Kinder spielten den Alltag nach, mit einer Gruppe, die die SS-Wachen darstellte, und einer anderen, die die erwachsenen Inhaftierten verkörperte. Zu Tode erschöpfte KZ-Insassen bastelten abends Puppen. Kinder malten furchtbare Bilder vom Lageralltag. Heute sind es bedrückende, beeindruckende Dokumente.
Wer damals bei der Befreiung 15 Jahre alt war, geht heute in sein neuntes Lebensjahrzehnt. Die letzten Zeitzeugen sind die Kinder von damals.
■ Mark Mühlhaus ist Fotograf. Die abgebildeten Fotos machte er anlässlich des 65. Jahrestags der Befreiung in verschiedenen KZ-Gedenkstätten. 2005 erschien „Begegnungen. 60. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus“. Infos zu seinem „Projekt 65“ unter www.attenzione-photo.com
■ Klaus Hillenbrand ist taz-Redakteur und Autor von „Der Ausgetauschte. Die außergewöhnliche Rettung des Israel Sumer Korman“, erschienen im Scherz Verlag