: Jeder Tag wird zum Theater
INSELFARCE Der Pseudonym-Autor einzlkind hat mit „Gretchen“ eine extravagante Dramaqueen im Zwangsexil geschaffen
VON GIAN-PHILIP ANDREAS
Grässlicher Gospel: Als Gretchen Morgenthau mit dem Boot in Gwynfaer landet, einer fiktiven Insel zwischen Island und den Äußeren Hebriden, schmettert der lokale Chor am Pier „Oh Happy Day“. Die große alte Prinzipalin des europäischen Theaters ist nicht amüsiert. Derlei Freudengesänge verachtet sie schließlich ebenso sehr wie die Tatsache, dass ein Richter sie mit einem mehrwöchigen Aufenthalt auf dem entlegenen Eiland bestrafte: „Oh Happy Day entsprach nicht ganz der Gemütsverfassung einer Dame von Welt im Angesicht der Hölle.“
Gretchen Morgenthau ist die Titelheldin des zweiten Romans von „einzlkind“. Das Debüt dieses dem Vernehmen nach männlichen Autors mit dem Tippfehler-Pseudonym – der schwarzhumorige Selbstmörder-Roadtrip „Harold“ – war vor drei Jahren eine schöne Entdeckung, und energisch wird seither das Gerücht dementiert, hinter dem Tarnnamen verstecke sich Klaus Bittermann, der Verleger des Autors.
Mit seinem „Gretchen“ hat einzlkind jetzt eine ganz wunderbar giftige Figur erfunden. Die übergriffige Gehässigkeit dieser 75-jährigen Starregisseurin, die nach einem Leben zwischen Wiener Burg, Paris und Berlin ihren Ruhestand in London verbringt, ist auf höchst elegante Weise gesellschaftsschädlich, sie selbst erfrischend frei von Altersmilde. Dumme Menschen mag sie nicht. Ihr Hass gilt der „von Großmannssucht und Pfauentum verschwitzten Dünkelwirtschaft“ der Regisseure und Intendanten ebenso wie den Theaterabonnenten in Bayreuth und Salzburg. Die nennt sie „geschmacklos aufgespritzte Champagner-Drosseln aus dem Wohltätigkeitsgewerbe“. Dieser trüben Welt setzt sie die eigene Eleganz entgegen. Wenn sie dem Bootsmann, der sie nach Gwynfaer übersetzt, die Haute-Couture-Stücke aufzählt, die in ihren Überseekoffern lagern, hat ihr Referat die Länge eines antiken Schiffskatalogs.
Als Gretchen Morgenthau die verhasste Insel unter Gospelgeheul betritt, hat sich der Roman längst aus zwei Richtungen auf dieses zentrale Kapitel zubewegt: Im steten Wechsel kurzer, prägnanter Szenen wird einerseits der verhängnisvolle Verhandlungstag beleuchtet, an dem Gretchen wegen Trunkenheit am Steuer dazu verurteilt wird, auf Gwynfaer ein Theaterstück zu inszenieren; andererseits geht es um den 18-jährigen Kyell, der als Lehrling eines dauerbedröhnten Tierarztes Kastrationsarbeiten leisten muss und in der nordatlantischen Abgeschiedenheit noch nichts von seinem Schicksal weiß, demnächst zu Gretchens persönlichem Sklaven befördert zu werden.
Der Erzähler wechselt dabei konsequent die Seiten. Ist von Gretchen die Rede, macht er sich deren Bildungsdünkel zu eigen und auch ihre Dramaqueen-Exzentrik, der jede Lästigkeit zum Affront wird, jedes Zipperlein zum Todesboten und jeder Tag zum Theater. Wechselt der Plot nach Gwynfaer, ist es dann Kyells Naivität, die auf den Erzähler übergreift und alles Moderne und Mondäne mit Erstaunen registriert: Der Culture Clash zwischen der Dame von kulturellem Rang und der Welt der „Eingeborenen“ ist sprachlich schon vorprogrammiert.
Eine große Tragödin
Zum Glück geht einzlkind danach nicht den nahe liegenden Weg, auf Gwynfaer eine herkömmliche Laientheaterklamotte mit Probenchaos und Regiegebrüll zu erzählen – obwohl Morgenthaus Tiraden gegen „inzestuöse und unterbelichtete Insulaner“ ebenso unterhaltsam sind wie jene gegen Kritiker, Schauspieler, Dozenten und andere Dilettanten. Gretchen tritt ihre Strafproben gar nicht erst an und kümmert sich lieber um einen zugeflogenen Papageientaucher namens Charles Manson. Die Regie überträgt sie Kyells punk-romantischem Kumpel Tule, einem Lokaljournalisten. Der möchte statt Ibsen einen Gaga-Beckett namens „Leben Saft Tomate“ erarbeiten, mit pathetischen Revoluzzer-Posen und einem Pausenclown im „Shirt of Shame“. Weswegen Gretchen schließlich doch einschreitet. Und am Ende, spontan, ein letztes Mal die große Tragödin gibt.
Keine Frage, in dieser gekonnt auf Pointe hin erzählten, mit trockenem Spott, makabrem Witz und ein paar Albernheiten gespickten Inselfarce ist la Morgenthau die alles beherrschende Rampensau. Wahrscheinlich ist sie größer als der ihren Namen tragende Roman. Wer deswegen aber auf die Idee kommt, ihrem Autor diese so leidenschaftlich unwirsche Kopfgeburt nicht ganz abnehmen zu wollen, wird vorsorglich von ihr selbst zurechtgewiesen: Jede Figur sei glaubwürdig, doziert Gretchen. „Hätte man Stalin, Hitler oder Mao erfunden, wäre das Urteil schnell gefällt: unglaubwürdig! Und genau deshalb ist Glaubwürdigkeit völlig irrelevant.“
■ einzlkind: „Gretchen“. Edition Tiamat, Berlin 2013, 240 Seiten, 18 Euro