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Archiv-Artikel

„Wie sind keine Terrororganisation“

Die radikalislamische Bewegung Hamas wird dem Druck der Europäer und der Amerikaner nicht nachgeben, sagt Hamas-Chef Chaled Meschaal. Wenn Israel Frieden wolle, müsse es sich auf die Grenzen von 1967 zurückziehen

taz: Herr Meschaal, vor einer Woche sind bei einem Selbstmordanschlag in Tel Aviv zehn Menschen gestorben. Die Hamas spricht von einem „Akt der Selbstverteidigung“. Glauben Sie immer noch, den Nahostkonflikt mit Gewalt lösen zu können?

Chaled Meschaal: Der Westen scheint zu übersehen, was dem Anschlag vorausgegangen ist. Seit dem Wahlsieg der Hamas geht Israel gewaltsam gegen das palästinensische Volk vor. Israel hat Kinder getötet, Häuser zerstört, Land beschlagnahmt und Unschuldige festgenommen – insgesamt 9.000 Gefangene sitzen in israelischen Gefängnissen. Daneben hält es palästinensische Steuer- und Zollgelder zurück. Israel hat auf demokratische Wahlen mit militärischer Aggression und einer wirtschaftlichen Aushungerungspolitik reagiert. Was hat die internationale Gemeinschaft erwartet? Dieser Druck führt zwangsläufig zur Explosion.

Trotzdem hat Ihre Reaktion viele Menschen im Westen entsetzt. Die Leute fragen sich, wie Sie einen Terroranschlag gutheißen können, bei dem Besucher eines Restaurants, also unschuldige Zivilisten sterben. Das bestätigt Ihr Image als Terrororganisation.

Wir sind keine Terrororganisation. Wir sind eine demokratisch gewählte Regierung. Israel betreibt Staatsterrorismus. Warum verurteilt der Westen immer nur das Verhalten der Palästinenser und nicht das Verhalten der Israelis? Das Problem sind die unterschiedlichen Maßstäbe, die angelegt werden. Danach werden die Aktionen der Schwächeren als Terror bezeichnet, wogegen das, was bestimmte Staaten am helllichten Tag an Terror betreiben, nicht als Terror angesehen wird.

Solange die Hamas nicht der Gewalt abschwört und Israel als Staat anerkennt, bekommt die palästinensische Autonomiebehörde kein Geld mehr aus dem Westen. Die Europäische Union und die USA haben ihre Finanzhilfen bereits gestoppt, die Palästinenser stehen vor dem finanziellen Kollaps. Ist es nicht Zeit, pragmatisch zu werden und Israel anzuerkennen?

Wer muss hier wen anerkennen? Jeder Jude weltweit hat das Recht, in Palästina zu leben, auch wenn er mit dem Land nichts zu tun hat. Aber ich bin in Ramallah geboren und kann nicht mal meine Familie dort besuchen. Die Hälfte der Palästinenser lebt in Flüchtlingslagern, sie haben kein Land, keinen Staat, keine Rechte. Also wer muss wen anerkennen? Israel muss uns anerkennen, uns ein Leben, Freiheit und Souveränität zugestehen. Was haben Jassir Arafat, Mahmud Abbas und die arabischen Staaten dafür bekommen, dass sie Israel anerkannt haben? Hat Israel sein Verhalten geändert? Hat die internationale Gemeinschaft daraufhin Druck auf Israel ausgeübt? Israel will uns besiegen und uns seine Bedingungen aufzwingen. ohne etwas zu geben. Aber das palästinensische Volk ist ein freies Volk, es ist nicht erpressbar. Der Westen irrt sich, wenn er glaubt, die Palästinenser gäben ihre Prinzipien gegen Geld auf. Wenn der Westen seine Tore schließt, bleiben die Tore des Ostens geöffnet.

Sie sind in den vergangenen Wochen durch die arabische und islamische Welt gereist, um für Unterstützung zu werben. Iran, Katar, Saudi-Arabien und Russland haben Gelder zugesagt. Können diese Länder die Finanzlücke schließen, die der Westen hinterlassen hat?

Das Wichtige ist nicht die Höhe der Zahlungen. Früher floss das viele Geld aus Europa, Japan und den USA an eine korrupte palästinensische Regierung, und die Europäer wissen genau, dass es nicht beim palästinensischen Volk ankam. Die jetzige Regierung ist gerecht und unbestechlich. Deshalb kann sie das wenige Geld im Interesse aller Palästinenser einsetzen.

Andere politische Kräfte wie Fatah wollen sich ihrer Regierung nicht anschließen, die Spannungen zwischen Präsident Mahmud Abbas und der Hamas entladen sich inzwischen in Straßenschlachten zwischen Fatah- und Hamas-Anhängern. Was ist aus der von Ihnen beschworenen nationalen Einheit geworden?

Das müssen Sie Europa fragen. Warum setzt der Westen palästinensische Politiker und Parteien so unter Druck, dass keiner wagt, mit uns zusammenzuarbeiten? Die Europäer und Amerikaner sprechen von „Hamas-Regierung“, um uns zu isolieren und die Palästinenser zu spalten. Aber die Hamas hat bei den Wahlen die Mehrheit gewonnen, das heißt, sie vertritt das palästinensische Volk. Wir sind die demokratisch legitimierte palästinensische Regierung. Das palästinensische Volk dafür zu bestrafen, dass es die Hamas in freien Wahlen gewählt hat, ist ein Verbrechen.

Was muss passieren, damit ein von der Hamas regiertes Palästina mit Israel in Frieden lebt?

Israel muss sich aus den 1967 besetzten Gebieten zurückziehen, Jerusalem als palästinensische Hauptstadt und das Rückkehrrecht der Palästinenser anerkennen, die Siedlungen räumen, die Trennmauer zerstören und unsere Gefangenen freilassen. Nur dann sind die Hamas, die Palästinenser, die Araber und Muslime für einen echten Frieden bereit.“

INTERVIEW: KRISTIN HELBERG