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Archiv-Artikel

„Warum bin ich in die Hölle hinabgestiegen?“

DOKUMENTATION Die Dankesrede von Swetlana Alexijewitsch in der Frankfurter Paulskirche: „Die Krankheit des Kommunismus ist chronisch“

Ich möchte Sie als „liebe Nachbarn in der Zeit“ ansprechen. Wir haben nicht nur die gleichen Smartphones in der Tasche, uns eint mehr – die gleichen Ängste und Illusionen, die gleichen Verlockungen und Enttäuschungen. Es erschreckt uns alle, dass das Böse immer raffinierter und unbegreiflicher wird. Wir können nicht mehr wie die Helden Tschechows ausrufen, in hundert Jahren würde der Himmel voller Diamanten und der Mensch wunderbar sein. Wir wissen nicht, wie der Mensch sein wird. […]

Ich habe den größten Teil meines Lebens in der Sowjetunion verbracht. Im kommunistischen Versuchslabor. Auf dem Tor des schrecklichen Lagers auf den Solowki-Inseln hing die Losung: „Mit eiserner Hand zwingen wir die Menschheit zum Glück“.

Der Kommunismus hatte einen aberwitzigen Plan – den alten Menschen, den alten Adam, umzumodeln. Und das ist gelungen. Es ist vielleicht das Einzige, was gelungen ist. In etwas über siebzig Jahren ist ein neuer Menschentyp entstanden: der Homo sovieticus. Die einen betrachten ihn als tragische Gestalt, die anderen nennen ihn „Sowok“. Wer aber ist er? Ich glaube, ich kenne diesen Menschen, er ist mir vertraut, ich habe viele Jahre Seite an Seite mit ihm gelebt. Er ist ich. Das sind meine Bekannten, meine Freunde, meine Eltern. Mein Vater, er ist vor Kurzem gestorben, ist bis ans Ende seines Lebens Kommunist geblieben.

Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch im Grunde schreibe ich nun seit fast vierzig Jahren an einem einzigen Buch. An einer russisch-sowjetischen Chronik: Revolution, Gulag, Krieg … Tschernobyl … der Untergang des „roten Imperiums“ … Ich folgte der Sowjetzeit. Hinter uns liegen ein Meer von Blut und ein gewaltiges Brudergrab. In meinen Büchern erzählt der „kleine Mensch“ von sich. Das Sandkorn der Geschichte. Er wird nie gefragt, er verschwindet spurlos, er nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab. […]

Stimmen … Stimmen … sie sind in mir … verfolgen mich …

Ich erinnere mich an einen hochgewachsenen schönen Greis, der noch Stalin gesehen hat. Was für uns ein Mythos war, war für ihn sein Leben. 1937 wurde zuerst seine Frau verhaftet, sie ging ins Theater und kam nicht zurück, und drei Tage später wurde auch er abgeholt.

„Sie schlugen mich mit einem Sack voll Sand auf den Bauch. Alles wurde aus mir herausgepresst wie aus einem zerquetschten Wurm. Sie hängten mich an Haken auf. Mittelalter! Alles läuft aus dir raus, du hast deinen Körper nicht mehr unter Kontrolle. Überall fließt es aus dir heraus … Diesen Schmerz auszuhalten … Diese Scham! Sterben ist leichter.“

1941 wurde er entlassen. Er hatte lange darum gekämpft, an die Front zu dürfen. Aus dem Krieg kam er mit Orden zurück. Er wurde ins Parteikomitee bestellt, und dort sagte man zu ihm: „Ihre Frau können wir Ihnen leider nicht zurückgeben, aber Ihr Parteibuch bekommen Sie zurück …“ – „Und ich war glücklich!“, sagte er. […]

Was ich auf der Straße hörte, konnte ich in den Büchern im Haus meiner Eltern, die beide Lehrer auf dem Land waren, nicht finden. Wie alle trug auch ich das Abzeichen mit dem lockenköpfigen Lenin als Kind. Ich träumte davon, Pionier zu werden und Komsomolzin. Ich bin diesen Weg bis ans Ende gegangen … […] Stimmen … Stimmen … Die Gesichter verschwinden aus meiner Erinnerung, die Stimmen aber bleiben.

Moskau. Tag des Sieges. Wir können uns noch immer nicht trennen von diesem Feiertag, denn ohne ihn bliebe nur der Gulag.

„Nach dem Gefecht gehst du über ein Feld, die Toten sind darüber verstreut wie Kartoffeln. Und schauen zum Himmel. Alle sind jung und schön. Sie tun dir leid, die einen wie die anderen. Töten ist unangenehm. Du willst überhaupt nicht töten.“ […]

Kabul 1988. Ein afghanisches Hospital. Eine junge Afghanin, ein Kind auf dem Arm. Ich gehe hin und reiche dem Kind einen Plüschteddy, und es nimmt ihn mit den Zähnen. „Warum nimmt er ihn mit den Zähnen?“, frage ich. Die Afghanin reißt die dünne Decke herunter, in die der Kleine eingewickelt ist, und ich sehe einen kleinen Rumpf ohne Arme und Beine. „Das haben deine Russen gemacht.“ – „Sie versteht nicht“, erklärt mir ein sowjetischer Hauptmann, der daneben steht, „wir haben ihnen den Sozialismus gebracht.“ […]

Die Explosion in Tschernobyl … ich fuhr hin … auf dem Reaktorgelände liefen Männer mit Maschinenpistolen herum, standen einsatzbereite Militärhubschrauber. Niemand wusste, was tun, aber alle waren ohne zu zögern bereit zu sterben. Das haben wir gelernt. […]

Die 90er Jahre … alle redeten von der Freiheit … warteten auf ein Fest, doch das Land um sie herum war zerstört. Veraltete Betriebe wurden geschlossen, unzählige Militärstädtchen starben, es gab plötzlich Millionen Arbeitslose, die schlechten Wohnungen aber kosteten auf einmal Geld, ebenso medizinische Versorgung und Bildung. Alles lag in Trümmern …

Wir entdeckten, dass Freiheit nur auf der Straße ein Fest war, im Alltag aber war das etwas ganz anderes. Freiheit ist eine anspruchsvolle Pflanze, sie gedeiht nicht an jedem Ort, aus dem Nichts. Allein aus unseren Träumen und Illusionen. […]

Es gibt wenige Gewinner, aber viele Verlierer. Und zwanzig Jahre danach lesen die jungen Leute wieder Marx. Wir hatten gedacht, der Kommunismus sei tot, aber diese Krankheit ist chronisch. In den Küchen werden noch immer die gleichen Gespräche geführt: Was tun und wer ist schuld? Da wird von einer eigenen Revolution geträumt. Umfragen zufolge sind die Menschen für Stalin, für eine „starke Hand“ und für den Sozialismus. Das Ende des „roten Menschen“ ist aufgeschoben. […]

Alles wiederholt sich … in Russland … in meinem kleinen Weißrussland gehen Tausende junge Leute erneut auf die Straße. Sitzen im Gefängnis. Und reden über die Freiheit.Vor der Revolution von 1917 schrieb der russische Schriftsteller Alexander Grin: „Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz.“ Auch jetzt ist die Zukunft nicht mehr an ihrem Platz … Manchmal frage ich mich, warum ich immer wieder in die Hölle hinabgestiegen bin. Um den Menschen zu finden …

Ich danke allen meinen Helden, die ihr Geheimnis mit mir geteilt, mir ihr Leben erzählt haben. Viele von ihnen leben nicht mehr. Aber ihre Stimmen bleiben. Ich danke Ihnen allen.

Aus dem Russischen übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Gekürzt. Die vollständige Rede finden Sie im Internet auf taz.de.