: Die Rückkehr der Krisenkanzlerin
STRATEGIE Angela Merkel versuchte, die Eurokrise aus dem Wahlkampf in NRW herauszuhalten – vergeblich
AUS BERLIN RALPH BOLLMANN
Die Absage kam am Montag um 10.50 Uhr. „Aufgrund der aktuellen politischen Entwicklung“, teilte die CDU-Parteizentrale mit, werde die Bundeskanzlerin ihre Wahlkampftermine in Alsdorf und Mönchengladbach „nicht wahrnehmen“. Es war das letzte Zeichen, dass der Wahlkampf in NRW, so wie er von den Parteien geplant war, jetzt sein Ende fand.
Über zweifelhafte Finanzpraktiken des CDU-Landesverbands hatten sich die Strategen zuvor den Kopf zerbrechen müssen, über die Wirkungen schwarz-grüner Spekulationen in konservativen Milieus, über die Popularität der SPD-Spitzenkandidatin und die mangelnde Beliebtheit des schwarz-gelben Bündnisses in Berlin. Das alles relativierte sich nun. Bis zum Sonntag wird in Nordrhein-Westfalen ein griechischer Wahlkampf geführt, um die Zukunft des Euro und die Zahlungsfähigkeit ganzer Staaten. Und weil das Thema so viel größer ist als die Koalitionsfrage in einem Bundesland, darf es nicht einmal nach einem Wahlkampf aussehen.
Euro – das öffentliche Gut
An diesem Mittwoch berät der Bundestag in erster Lesung über die Griechenlandhilfe. In einer Regierungserklärung wird Merkel sagen, was sie seit Montag schon in allen Fernsehsendern sagt. Dass wir nicht den Griechen helfen, sondern uns selbst. Dass es um den Euro geht, also um ein öffentliches Gut. Dass sie die harten Bedingungen nur mit ihrem Zuwarten durchgesetzt hat.
Am vorigen Donnerstag war die Kanzlerin noch nach Siegen und Hürth geflogen. Zwei Tage nachdem die griechischen Staatspapiere auf Schrottstatus abgestuft waren, einen Tag nachdem Merkel die Präsidenten von IWF und Weltbank im Kanzleramt empfangen hatte. Sie hat es bei ihren Wahlkampfauftritten gemacht wie stets in Situationen, in denen sie das Ende nicht absehen kann: Sie sagte zu Griechenland kaum etwas, jedenfalls nichts, worauf man sie später festlegen könnte. Stattdessen sprach sie über die Integration alleinerziehender Mütter.
Nach ihrer Rückkehr in die Hauptstadt begann sie, die Öffentlichkeit auf die neue Lage einzustimmen. Am Sonntag wurden die europäischen Hilfszusagen beschlossen, 110 Milliarden Euro, was der Zahl nahekam, die FDP-Wirtschaftsminister Rainer Brüderle auf einer Brasilienreise ausgeplaudert hatte. Statt nach Alsdorf und Mönchengladbach ging Merkel am Montag in die Fernsehstudios. Nun schlüpfte sie in die Rolle, die sie schon im Krisenherbst 2008 erst mit Verzögerung fand, in die Rolle der Krisenkanzlerin.
Es erinnert ohnehin viel an die dramatischen Wochen vor anderthalb Jahren, als die Finanzkrise voll ausbrach. Der Bundestagsbeschluss im Eilverfahren, damals für die Banken, diesmal für die Griechen und den Euro. Der gemeinsame Auftritt mit dem Koalitionspartner, wobei der Merkel-Vize Guido Westerwelle zur Sache wenig beizutragen hatte. Es wirkte, als hätte Merkel ihn nur vor die Kameras gezerrt, um ihn sichtbar einzubinden.
Auftritt der SPD-„Stones“
Wichtiger ist die Einbindung der Opposition, vor allem der SPD. Am Montag hatten sich Ex-Finanzminister Peer Steinbrück und Ex-Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Spiegel zur Krise eingelassen. Gefährlich für Merkel war nicht der Inhalt, sondern der Auftritt. Die Intervention der „Stones“ beschwor die Frage herauf, ob die Kanzlerin mit dem Neuling Westerwelle und dem eigenwilligen Wolfgang Schäuble so verlässlich kooperieren könne wie mit ihren Vertrauten aus der SPD.
Umso intensiver ist das Bemühen, die SPD bis zur Abstimmung am Freitag für das Krisenpaket einzunehmen. Am Dienstagvormittag trafen sich die Vorsitzenden aller Bundestagsfraktionen. Eine gemeinsame Resolution zur Finanzmarktregulierung soll es geben. Umstritten ist die Forderung der SPD nach einer Transaktionssteuer für Finanzgeschäfte, wie sie auch die Kanzlerin im Umfeld der letzten Bundestagswahl kurz forderte und damit Proteste der FDP hervorrief. Jedes Zugeständnis wäre ein neuerlicher Affront gegenüber dem Koalitionspartner, der in dieser Woche ohnehin zwei Schicksalsschläge zu gewärtigen hat: die Versenkung der Steuersenkungspläne durch den Schätzerkreis am Donnerstag und den möglichen Verlust der Regierungsbeteiligung in NRW.
An den Herbst 2008 erinnert auch Merkels Rolle als „Madame Non“. Damals wehrte sie sich wochenlang gegen das internationale Drängen auf schuldenfinanzierte Wirtschaftshilfen. Als das deutsche Konjunkturpaket dann kam, etwas langsamer und etwas kleiner, warnten dieselben Kommentatoren plötzlich vor dem Weg in den Schuldenstaat.
Diesmal ist es auf der einen Seite die europafreundliche Elite, die Merkel vorwirft, sie habe durch wochenlange Hilfsverweigerung die Zuspitzung der Krise herbeigeführt. Auf der anderen Seite steht eine skeptische Bevölkerung, die in jedem Euro für Griechenland eine Verschleuderung von Steuergeld sieht. Zu ihrem Sprachrohr hat sich in den letzten Wochen Bild gemacht. Dazwischen die Kanzlerin, die sich zugutehält, dass sie die harten Sanierungsbedingungen für Griechenland durch ihren langen Widerstand erst durchgesetzt hat.
Wie sich das alles auf die Wahl am Sonntag auswirken wird, das vermag mittlerweile kaum noch jemand vorauszusagen, selbst jene nicht, die vor kurzem noch bereitwillig über Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot spekulierten. Die jüngste Umfrage stammt noch aus der Woche vor dem Hilfsbeschluss.