: „Sie werden viel zu tun haben“
Die globalisierte Moderne produziert – Müll. Auch gesellschaftlichen Müll. Doch ein Zurück kann es nicht geben. Ein Gespräch mit dem polnisch-britischen Starsoziologen Zygmunt Bauman
INTERVIEW von SUSANNE LANG UND JAN FEDDERSEN
taz.mag: Herr Bauman, Sie leben nun seit 35 Jahren in Leeds – fast die Hälfte Ihres Lebens. Ist Ihnen die Stadt zur Heimat geworden?
Zygmunt Bauman: Ich nehme an, ja. Zumindest gibt es keine andere.
Sie haben keine emotionale Beziehung entwickelt?
Wissen Sie, es war ja Zufall, dass meine Frau und ich nach Leeds gingen. Eines Tages erhielt ich ein Telegramm: ob ich an Gesprächen mit der Universität interessiert sei. Ich sagte: Ja, das sei ich. Und wir gingen nach Leeds.
Und blieben. Beschreibt das die postmoderne Definition von Heimat: ein Platz zum Verweilen?
Vielleicht, ja. Wenn wir auf Reisen sind – und wir reisen sehr oft – und an die Heimkehr denken, denken wir an Leeds. Nach Hause fahren heißt nach Leeds fahren. Obwohl die Stadt lange Zeit ein tragischer Ort war. Als wir vor 35 Jahren ankamen, war das einstige Zentrum der industriellen Revolution mit ihrer Bourgeoisie zu einer schrecklich verschmutzten Geisterstadt verfallen. Keine Industrie mehr. Angst einflößend!
Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen, Leeds ist eine sehr schicke Stadt.
Ein erstaunlicher Wandel! Und, ehrlich gesagt, für mich auch immer noch ein großes Rätsel: Obwohl sich hier keine neue Industrie angesiedelt hat, geht es der Stadt immer besser.
Sie meinen, ein Rätsel für den Marxisten, der Sie ja nach eigener Zuschreibung im Herzen immer noch sind?
Ich war eben immer der festen Überzeugung, dass Produktion Arbeit schafft. Heute gibt es in Leeds zwei große Universitäten, alle versnobt schicken Labels eröffnen Filialen, und angeblich kommen die Yumpies, die young upward mobile professionals, wegen des Nachtlebens mittlerweile sogar aus London hierher. Trotzdem verstehe ich nicht, wie diese Konsumgesellschaft funktionieren kann.
Aber Sie leben gerne in ihr?
Ich habe ja keinen direkten Kontakt zu ihr. Wenn ich in die Stadt gehe, ist das, als ob ich nach Düsseldorf oder Mailand fahre: Ich bin ein Besucher.
Sie fühlen sich fremd?
Ach, wissen Sie, ich habe im Laufe meines langen Lebens alle totalitären Gesellschaftssysteme des 20. Jahrhunderts erlebt: das faschistische, kommunistische wie auch das postkommunistische in Osteuropa. Jetzt lebe ich in einer multikulturellen, postmodernen Gesellschaft. Ich habe also jede Menge Erfahrungen gemacht. Und glaube nicht mehr daran, dass es überhaupt so etwas gibt wie eine gute Gesellschaft.
Was heißt gut?
Eine Gesellschaft, die sich immerfort sagt: „Wir sind nicht gut genug.“ Aber es gibt keinen perfekten Zustand. Ideal heißt der wahre Feind des Guten. Denn jede Form von Gesellschaft ist auf ihre Art unperfekt.
Demnach wäre die „flüssige Moderne“, wie Sie unsere Gesellschaftsform umschrieben haben, mit ihrer Utopielosigkeit ein Fortschritt?
Zumindest ist es eine faszinierende Erfahrung, denn keine andere Gesellschaft in der Vergangenheit lebte mit der Vorstellung, dass es weder eine vorgegebene göttliche Ordnung der Dinge noch eine menschenbestimmte gibt. Flüchtige Gesellschaften leben von einem Moment zum nächsten.
Ist das eine Bürde oder ein Akt der Befreiung?
Schwer zu sagen. Wenn Sie beispielsweise eine Person aus einer Gesellschaft nehmen – sagen wir aus dem mittelalterlichen Deutschland – und sie in das heutige Hamburg versetzten, glauben Sie, dass diese Person über die spätmoderne Gesellschaft erfreut wäre? Ich bin mir da nicht so sicher!
Sie beschreiben eine Reaktion, die aktuell auch auf Einwanderer aus vormodern strukturierten Ländern zutrifft.
Selbstverständlich ist bei Migrationsprozessen Ärger programmiert. Einwanderer bringen ihre Idee von einer normalen Gesellschaft in ein Milieu, das auf sie ganz und gar eigenartig wirkt. Was nun nicht heißen soll, dass sie aus einer Normalität gerissen und in eine Anormalität gesteckt würden. Sie bringen vielmehr ein bestimmtes Inventar an Ängsten und Hoffnungen mit, die auf die Ängste und Hoffnungen der modernen Gesellschaft prallen.
Waren die Krawalle arabischstämmiger Jugendlicher in den französischen Banlieues ein Ausdruck dieser Kollision? Oder von mangelnder Assimilation an die neue Kultur?
Ich glaube, die meisten versuchen zunächst ihre eigene Identität zu wahren. Viele ziehen sich daher in ihre diasporische Gemeinschaft zurück, eine dritte Welt, die schwer lokalisierbar ist. Sie kommt zu den zwei schon bestehenden Welten hinzu, die sowieso schon im Gegensatz zueinander stehen. Die eine haben sie im Kopf, mit ihren Bräuchen, und Instinkten. Die zweite Welt ist für sie der unbekannte Dschungel, die westliche Welt, ein nach ihrem kulturellen Verständnis „rechtsfreier Ort“ ohne Regeln. Daher wirkt er auf sie so Angst einflößend.
Sie schließen sich also selbst aus der Gesellschaft aus?
Auf diese Frage gibt es keine generelle Antwort. Einige aus der zweiten Generation von Einwanderern in Zentraleuropa nehmen sehr viel auf sich, um eine gute Ausbildung zu bekommen. Und schaffen dann ihre Diplome. Aber eine Mehrzahl von ihnen ist unfähig, mit Spannungen umzugehen, sie sind schlechte Schüler und kämpfen sehr hart dafür, überhaupt Anerkennung zu bekommen.
Welche Rolle spielt dabei eine Gesellschaft, die immer mehr Menschen ausgrenzt, wie Sie es in Ihrem jüngst erschienenen Buch „Verworfenes Leben“ beschreiben?
Exklusion ist kein neues Phänomen der modernen Gesellschaft. Aber die Parameter haben sich verändert. Es ist gut, dass wir die moderne Gesellschaft haben, okay. Aber es ist nur für einige gut. Und selbst diejenigen, die sich zugehörig fühlen, leben in ständiger Furcht, doch ausgeschlossen zu werden. Der Ausschluss ist ein Phantom, das Schwert, das über jedem Menschen hängt, auch über der Mittelklasse.
Wovon fühlt sie sich bedroht?
Immer wenn ein Land wirtschaftlichen Fortschritt erlebt, entwickelt es neue, bessere Technologien. Die Ära der Massenproduktion ist vorbei. Sie brauchen jetzt flexible und mobile Anlagen. So zerstört der wirtschaftliche Fortschritt die traditionellen Arten, den Lebensunterhalt zu verdienen, und hinterlässt eine ganze Reihe von Menschen ohne die Mittel, sich daran anzupassen. Aber, wie gesagt, dies ist kein neues Phänomen. Nehmen Sie die deutschen Auswanderer nach Amerika im 19. Jahrhundert: Das waren Arbeiter aus den Provinzstädten, die nicht mehr einstellbar waren.
Auf der Suche nach einem besseren Leben?
Ich würde sagen, nach der Wiederherstellung der Möglichkeiten, die für sie in ihrer Heimat verloren gegangen waren. Oder nehmen Sie die Emigration aus Europa im 20. Jahrhundert, jene Menschen wuchsen mit hohen Erwartungen auf. Sie kamen aus wohlhabenden Familien und erwarteten, das gleiche Niveau wie ihre Eltern zu erreichen. Aber unglücklicherweise gab es nicht genug Chancen. Ähnlich wie heute war Europa in den 30er-Jahren mit einer Überproduktion der Intelligenzia konfrontiert. Menschen mit einem hohen Bildungsstandard, aber keiner Möglichkeit, diesen auszuspielen. Im Unterschied zu heute gab es jedoch natürliche Ausweichmöglichkeiten. Viele wanderten aus, nach Australien etwa.
Diese Migrationsprozesse gibt es doch auch heute.
Aber die Räume fehlen zunehmend, ein Ergebnis der Globalisierung, des weltweiten wirtschaftlichen Fortschritts. Es gibt kein natürliches Auffangbecken mehr für die Arbeitslosigkeit, keine geografischen Räume, die sich besetzen ließen. Deshalb kristallisiert sich eine neue Form der Unterklasse heraus.
Was ist neu an ihr?
Ich bin jetzt seit vielen, vielen Jahren Soziologe, aber noch nie war ich mit einer derartigen Unterklasse konfrontiert. Was es bisher gab, waren untere Schichten, die lower class. Sie impliziert, dass Menschen am unteren Rand einer Gesellschaft stehen, die aber auch eine obere Schicht hat.
Zu der sie aufsteigen können?
Ja, wie bei einer Leiter, auf der man unten steht. Die Unterklasse hingegen steht außerhalb des Klassensystems, darunter, ausgeschlossen. Das ist genau der Punkt. In Gesellschaften, die trotz aller Widrigkeiten an ihrem Sozialstaat festhalten, gilt der Konsens, dass jeder abgesichert sein sollte. Wer jedoch unter heutigen Bedingungen ausgeschlossen wird, dem erscheint es, als sei es für immer. Da gibt es keine Lösung und kein Heilmittel mehr.
Wieso sollte der Ausschluss tatsächlich für immer sein?
Die Moderne hat einen globalen Krieg gewonnen, nun greift die Modernisierung weltweit um sich. Auch Menschen in Japan, in Nepal und Katar sind dabei, sich zu modernisieren. Und alle produzieren einen Anteil der Bevölkerung, der arbeitslos ist. Wussten Sie, dass es im prämodernen Europa kein Konzept von „Müll“ gab? Nichts wurde weggeworfen. Jeder Schnipsel wurde im Haushalt oder auf dem Hof recycelt. Also gab es auch keine Müllentsorgung. Straßenfeger, die den Müll einsammeln – völlig unbekannt! Die Modernisierungs-Newcomer sind nun in einer schrecklichen Situation. Sie müssen lokale Lösungen zum globalen Problem der Arbeitslosigkeit finden. Denn sie haben nicht wie die Europäer im 19. Jahrhundert die Möglichkeit, es global zu lösen, also über Migration.
Das würde das Ende des Modernisierungsprozesses bedeuten.
Oh, ich habe da keine Patentrezepte. Ich bin kein Prophet. In der modernen Gesellschaft waren nach den Gesetzgebern die Intellektuellen lange Zeit die Architekten. Sie wussten genau, wie eine Gesellschaft sein sollte, sie versuchten, die Despoten aufzuklären oder die Ordnung der Dinge zu ändern. Das Bittere daran: Wenn sie die Chance hatten, ihren eigenen Worten Folge zu leisten, endete das in der Katastrophe. In Deutschland war es eine, ebenso in Russland. Intellektuelle sollten besser damit aufhören, Lösungen zu propagieren. Ihre angemessene Rolle ist die des Interpreten.
Sehen Sie denn als ein solcher vorhandene Lösungsansätze?
Glücklicherweise haben wir eine Vielzahl verschiedener Stimmen, zu jeder Meinung gibt es eine Gegenmeinung. Zum großen Teil haben wir die Theorie der Kommunikation von Jürgen Habermas also verwirklicht: Jeder redet, keiner hört zu.
Wir hören Ihnen zu.
Fein. Aber im Ernst: Ich kann den Istzustand beschreiben, um die Herausforderung zu erkennen, denen Sie jungen Leute – nicht ich, ich bin alt und werde sterben, aber Sie werden noch einige Dutzend Jahre im 21. Jahrhundert leben – gegenüberstehen werden.
Sie machen es aber spannend.
Die größte Herausforderung, wie ich meine, besteht darin, das Unvermeidbare der Globalisierung mit den Vorteilen der Globalisierung zu schlagen. Ich glaube nicht, dass es einen Rückzug in eine Welt der separaten, souveränen Nationen geben wird, wie es am Anfang der Moderne im 18., 19. und 20 Jahrhundert der Fall war. Schon heute sind wir alle zu sehr verwoben und voneinander abhängig. Es ist wie beim Theorem vom „Bergprozess“: Sie klettern eine sehr steile Steigung zu einem Bergpass hoch ohne auch nur die geringste Ahnung, was auf der anderen Seite des Passes liegt. Sie können es nicht sehen, weil Ihnen die Sicht darauf verborgen bleibt. Anhalten können Sie aber auch nicht.
Was spricht gegen das Anhalten?
Dann müssten Sie versuchen, Ihr Haus am steilen Hang zu bauen, und der nächste Windstoß wird es zerstören. Also müssen Sie weiter. Das ist wie beim Radfahren. Wenn Sie aufhören, die Füße zu bewegen, dann stürzen Sie. Wir befinden uns also an diesem Hang, den ich „Straße zur positiven Globalisierung“ nenne.
Wo soll diese Straße hinführen?
Im Augenblick sind wir mit der negative Globalisierung konfrontiert. Sie tritt ein, wenn nicht geplant und gesteuert wird, sie findet einfach statt. Negative Globalisierung ist die Globalisierung von Kapital, Handel, Information, Kriminalität und Terrorismus.
Und Tribalismus?
Nein, dabei handelt es sich um die Reaktion auf das Konzept der Globalisierung. Eine falsche. Denn Globalisierung heißt, unabhängig von der jeweiligen Staatsmacht zu werden. Wenn dies interessengesteuert geschieht, zum Beispiel von Firmen, zerstört es die traditionellen Abwehrmechanismen gegen Unsicherheit, ohne sie durch neue zu ersetzen. Die positive Globalisierung macht ein Angebot: eine postnationale Ordnung. Mitunter spricht man auch von der kosmopolitischen Politik, ein Ausdruck, der mir aber nicht gefällt.
Welcher Ausdruck erscheint Ihnen passender?
Ich sage es lieber so: Auf der globalen Ebene muss etwas Äquivalentes zu den Institutionen der politischen Kontrolle gebildet werden. Eine globale politische Willensäußerung, eine Art demokratischer Meinungsbildung, was die Moderne zuvor im nationalen Bezugssystem „Staat“ geschaffen hatte. Meiner Meinung nach ist es das Einzige, was geleistet werden muss. Sie werden viel zu tun haben!
Wir könnten ja damit beginnen, auf Organisationen wie die UN zu setzen, in der die nichtdemokratischen und despotischen Regime die Mehrheit halten.
Die vereinten Nationen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem Grund geschaffen, der noch heute in den Lehrbüchern der UN steht: die Souveränität jedes Mitgliedstaates gegen einen militärischen Angriff zu schützen. Sie untermauert also das Prinzip des Nationalstaats, nicht wahr? Seine Souveränität wurde aber überraschenderweise nicht durch Militärgewalt und Aggression geschwächt, sondern durch die negative Globalisierung. Dahinter steht kein Staat, sondern die Mobilität von Kapital, das ganz ohne Vorwarnung von einem Ort zum anderen verschoben werden kann. Es braucht kein großes Heer, das die Frontlinien durchbrechen muss, nur einen Laptop und ein Mobiltelefon.
Was schlagen Sie vor? Ein Weltparlament?
Kennen Sie Johan Galtung?
Den Mitbegründer der Friedens- und Konfliktforschung?
Ein sehr weiser Politologe, viel weiser, als ich es bin, denn ich bin der Theoretiker und er der Praktiker. Er arbeitet Tag und Nacht, also kennt er sich aus. Wir waren in Venedig und haben beide Vorträge gehalten. Johan Galtung sprach vor mir und hatte genau die gleiche Fragestellung wie ich. Was, so ging die Frage, steht einem Weltparlament im Wege? Seine Antwort: Sie möchten ein Weltparlament? Dann stellen Sie sich vor, Sie hätten dort sechs Norweger, zwanzig Italiener, sechzig Deutsche, tausend Inder, zweitausend Chinesen. Dann hielt er inne, sah uns an und sagte: „Ich sehe keine große Begeisterung für das Weltparlament in Ihren Gesichtern.“ So wird es nicht funktionieren.
Wie sollte dann eine politische Kontrolle möglich sein, die Sie ja einfordern?
Der globale Ort gehört niemandem, da gibt es keine regulierende Staatsmacht. Es muss eine Art globale Gerichtsbarkeit garantiert werden. Nicht zu verwechseln mit einer internationalen – die darauf ausgerichtet ist, eine territoriale Trennung zu erhalten, die gegen jede Räson spricht. Man ist auf seinem eigenem Gebiet nicht mehr länger souverän, aber noch nicht angekommen in der offenen Gesellschaft, die nach Karl Popper großzügig sein will, offenherzig gegenüber Neuankömmlingen. Wir sind jedoch nicht offen, wir sind geöffnet, und zwar mit Gewalt.
Ist nicht die Europäische Union wenigstens ein ernst zu nehmender Versuch, ein transnationales Gebilde zu errichten?
Die Europäische Union ist doch ein sehr zwiespältiges Geschöpf. Einerseits erkundet es eine extrem wichtige Kunst, nämlich die, in einer friedlichen, koordinierten Welt zusammenzuleben – trotz aller Unterschiede, die die Länder trennen. Es ist die Idee einer idealen Republik, die nur immer noch den Druck zur kulturellen Assimilation beinhaltet. Jeder muss so sein, wie es die deutsche Kultur verlangt. Die Menschen müssen waschechte Franzosen werden! Dabei hat schon Lessing damals über die Unterschiede frohlockt und sie als das große Geschenk Gottes erkannt. Im Gegensatz zu Habermas, der annimmt, dass wir erst glücklich werden, wenn ein allgemeiner Konsens existiert. In der EU gibt es glücklicherweise eine Tendenz, den Reichtum der Unterschiede anzuerkennen.
Aber worin besteht dann die Zwiespältigkeit?
In einer anderen Tendenz: einer der Einschränkung. Weil sich eine Nation allein nicht mehr gegen den Rest der Welt verteidigen und behaupten kann, nicht militärisch, sondern wirtschaftlich und kulturell, formiert sich ein Bollwerk. Das ist nichts anderes als Tribalismus auf einem übernationalen Level.
Fühlen Sie sich denn persönlich als Bürger Europas?
Aber ja! Das ist nun das Einzige, was ich über mich zu sagen vermag. Ich bin in Polen geboren, wurde dort aber vertrieben, und werde in England auch nach 35 Jahren noch als Ausländer sterben. Mit einem nationalen Zugehörigkeitsgefühl wird es also schwierig.
Warum werden Sie als Ausländer sterben?
Schon die Sprache und das Verhalten verhindern, dass man Engländer wird. Ich werde immer einen Akzent haben. Und trotzdem lebe ich hier in einer sehr glücklichen Situation. Wenn Sie nicht das Ziel anstreben, Engländer zu werden, sind alle sehr tolerant. Man verzeiht alle Fauxpas.
Ein Grund dafür, warum Sie einmal gesagt haben, dass Großbritannien für Immigranten das beste aller Länder sei?
Oh ja. Wenn Sie in die Verlegenheit geraten, Flüchtling zu werden, ist England eine gute Lösung. England ist sehr klassenbewusst. Trotz aller Demokratie und Labour-Politik gibt es ungeschriebene Codes, die jeder Schicht der Gesellschaft zugeordnet werden. Eine Durchmischung sorgt noch immer für Durcheinander und Unmut. Als Janina, meine Frau, Schulbibliothekarin wurde – ich war Professor an der Universität –, fragte sie einen Dozenten, einen sehr ernsthaften jungen Mann, zu welcher Schicht wir Baumans eigentlich gehören. Er dachte lange nach und sagte schließlich: „Es ist sehr bizarr, aber Sie gehören zu gar keiner Schicht.“
Ist das nicht frustrierend?
Warum sollte es?
Es könnte doch sein, dass Sie sich gern zugehörig fühlen wollten?
Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller George Steiner sagte, dass seine Schreibmaschine seine Heimat sei. Er sagte das, weil es damals noch keine Computer gab. Mein Leben besteht darin, Information zu recyceln. Und das kann man überall tun, ohne Assimilierungsbedarf.
Somit wären Sie ein Vorreiter der flüssigen Gesellschaft – als Part der intellektuellen Globalisierung?
Eigentlich bin ich ein Globetrotter, ja.
Sind Sie es gern?
Nein, gar nicht. Das ist ja das Problem. Wir reisen häufig, aus vielen Gründen. Einer ist – und ich muss es leider zugeben – meine Pension. Ich habe nicht lange genug als Professor gearbeitet, also brauche ich zusätzliches Einkommen. Ein anderer Grund ist aber auch, dass ich viele interessante Einladungen erhalte und Studenten von überallher treffen kann. Und Sie glauben gar nicht, wie sehr sie sich anstrengen, um schwarze Löcher in meinen Antworten zu finden. Sie enthüllen die Schwachstellen. Und das belebt meine Arbeit. Aber eigentlich mag ich dieses Jetsetting nicht.
Es ist Ihnen nicht etwa zu flüchtig?
Nun ja. Sogar meine Kollegen, andere Soziologen, sprechen nicht mehr von Strukturen, sondern von Netzwerken. Menschen in einer flüssigen, modernen Gesellschaft finden so viel Gefallen an Netzwerken, weil es so einfach ist, die Verbindung zu unterbrechen. Wenn Sie die Unterhaltung oder die Person, mit der Sie sie führen, nicht mögen, dann drücken Sie einfach auf „Löschen“. Es ist so einfach.
Was stört Sie so sehr daran?
Selbst wenn man sehr zynisch ist oder eine Person zweifelhafter Moral, wird es einem immer schwer fallen, eine Beziehung zu beenden. Sich zu trennen ist immer eine traumatische Erfahrung. Aber das Internet-Netzwerk bietet die Möglichkeit, eine Beziehung ohne jegliche Erklärung zu beenden. Sie antworten einfach nicht mehr auf Messages.
Viele behaupten ja, dass gerade deshalb feste Verbindungen wie Ehe und Familie wieder an Wert gewinnen. Glauben Sie das auch?
Seit ich vor vielen Jahren „Das Unbehagen an der Kultur“ gelesen habe, weiß ich, dass es bei jeder Form von Zivilisation zu einem Tauschgeschäft kommt. Sie geben etwas, um etwas zu bekommen. Nach Freud gaben Menschen viel Freiheit, um gesitteter zu werden. Das sind wichtige Werte. Aber Sie brauchen einen gewissen Grad an Sicherheit. Das Problem ist, dass die Geschichte der Menschheit ein Pendel ist und keine Gerade bildet. Erst schlägt das Pendel in Richtung Freiheit, dann genau zum anderen Extrem: Sicherheit.
Wie frei, würden Sie sagen, fühlen Sie sich?
Sehen Sie, ich hoffe, ohne mir selbst zu schmeicheln, dass ich sehr frei bin. Ich gehöre keiner Gruppe an, bin nicht Teil einer institutionalisierten Gruppe, ich muss keine Karriere machen, im Gegensatz zu euch jungen Leuten, die ihr euch noch am Markt anbieten und verkaufen müsst. Ich folge dem Adorno-Rezept. Die letzte Bastion der Freiheit ist die Einsamkeit, der Rückzug. Ich bin völlig entspannt. Aber warum gelingt es mir, frei zu sein? Weil ich mich sicher fühle. Ich kann mich auf meinen Partner, meine Frau Janina, verlassen, wir kennen einander in- und auswendig. Wir sind nicht identisch, sondern ergänzen einander. Das sind die besten Paare. Aber ich glaube nicht, dass mein Leben ein Patentrezept für andere ist.
Weshalb, glauben Sie, nicht?
Das eigentliche Problem würde nicht verschwinden. Vor der Moderne gab es ein Defizit an Freiheit, in der Moderne ein Defizit an Sicherheit. Aber wenn Sie die Utopisten genau studieren, dann handelte es sich in Wirklichkeit um eine Ära der Sklaverei, der Konzentrationslager. Alles, was Menschen taten, wurde vorher festgelegt. Es gab keine Entscheidungsfreiheit. Die Utopisten träumten von der Sicherheit, denn die fehlte ihnen wirklich. Was ihnen aber nicht klar war: Die perfekte Umsetzung dieser Sicherheit waren Stalin und Hitler.
Wo steht das Pendel heute? Sicherheit oder Freiheit?
Es gibt einen Drang zu einfachen, fundamentalistischen Wahrheiten. Man muss keine schwierigen Entscheidungen mehr treffen, weil ja alles schon festgelegt ist. Wunderbar. Als ich nach dem Zweiten Weltkrieg endlich die Armee verließ, fühlte ich mich zugleich völlig verloren. Denn dort wusste ich zu jeder Stunde genau, was ich zu tun hatte. Plötzlich musste ich Entscheidungen treffen. Das war traumatisch, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich wirklich die Kunst des zivilen Lebens lernte.
Worin besteht diese Kunst?
Das Freisein muss erst gelernt werden. Denn Sie handeln nicht mehr, weil Sie kommandiert werden. Wer war zuvor verantwortlich? Derjenige, der die Befehle gab. Wie Sie wissen, behauptete Adolf Eichmann, dass er nur nach dem deutschen Gesetz handelte. In gewisser Hinsicht hatte er sogar Recht. Alle Psychiater, die Eichmann untersuchten, fanden ihn außergewöhnlich konventionell und normal. Und in seiner Bürgerlichkeit war die Art, in der er Befehle ausführte, eine Tugend. Ich denke, wenn ich Eichmann getroffen hätte, ohne zu wissen, wer er war, sagen wir in einer Cafeteria oder einfach als Nachbar – ich hätte ihn sicher gemocht.
Ein unfreier Befehlsempfänger?
Sehen Sie, was die Armee eigentlich bietet, ist die Freiheit von den Möglichkeiten. Weil wir nun in der flüssigen Gesellschaft alle Individuen sind, die von ihren eigenen Ressourcen leben, tragen wir wirklich für jede unserer Handlungen die Verantwortung. Also hat Freiheit ihren Preis.
Sind wir in der Lage, die Verantwortung zu tragen?
Das ist möglich, vor allem in dieser globalisierten Welt, mit ihren vielen Verbindungen und gegenseitigen Abhängigkeiten. Alles, was wir tun, wirkt sich auf das Leben anderer Menschen aus. Aber wir neigen dazu, es zu vergessen. Den Schritt von dieser objektiven Verantwortung zu einer Moral nenne ich die Verantwortung für die Verantwortung.
Können wir dieser Verantwortung wirklich gerecht werden?
Nun, moderne Moral ist kein Rezept, um glücklich zu werden. Moralisch zu sein heißt, dauernd in einem Zustand der akuten Angst zu schweben. Weil man sich niemals sicher ist, dass man alles in seiner Macht Stehende getan hat. Man wird immer ein schlechtes Gewissen haben. Vielleicht hätte ich mehr tun können, vielleicht habe ich nicht das Richtige getan.
Wenn Sie auf Ihr Leben und das Ihrer Frau zurückblicken, haben Sie das Gefühl, das Richtige getan zu haben?
Ich glaube, ich habe getan, was ich konnte. Ich mag meinen Beruf, er hat mir sehr viel Spaß gemacht, und ich könnte wahrscheinlich gar keinen anderen ausüben. Ich hatte ausgezeichnete Kollegen, die leider nicht weltberühmte Intellektuelle werden konnten. Ich fühle mich zu Hause, deswegen bin ich zufrieden. Ich liebe, wo ich in der Welt gelandet bin.
SUSANNE LANG, 29, ist taz-zwei-Redakteurin, JAN FEDDERSEN, 48, Redakteur in taz-zwei und taz.mag