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Archiv-Artikel

Vereinzelt fliegen Frisbees

Die Dreiteilung Berlins rund um den 1. Mai: Im Mauerpark war’s mau, am Boxhagener Platz laut. In Kreuzberg feierten und demonstrierten Massen. Momentaufnahmen zweier meist friedlicher Tage

WALPURGISNACHT

6:00 Uhr: „Schlimmster 1. Mai befürchtet“, titelt die Haudraufschmonzette BZ. Offenbar will das Springerblatt die müde Szene ein wenig anfeuern.

16:40, Eberswalder Ecke Oderberger Straße: Business as usual am Mauerpark: Metallgitter sperren den Eingang ab, Brandenburger PolizistInnen kontrollieren die Besucher. Die Willkommensfrage: „Haben Sie irgendwelche gefährlichen Gegenstände, Waffen oder Flaschen mit dabei?“ Erstaunlich: Niemand antwortet mit Ja. Trotzdem werden Taschen gründlich durchwühlt und die meisten Personen abgetastet. Die Polizisten wirken nervös.

17:30, Warschauer Straße: Trotz des Feiertags staut sich der Verkehr, genauso eng geht es auf der Frankfurter Allee zu. Grund: Hunderte von Polizeiwannen stehen entlang den großen Straßen und erschweren den Verkehrsfluss.

17:35, Flohmarkt am Mauerpark: Für die meisten Besucher hier sind die Walpurgisnachtkrawalle Geschichten aus einer anderen Welt: Viele sind über 30, nicht wenige mittelmäßig gestylt, die meisten Frauen schieben Kinderwagen vor sich her. (Junge) Krawallmacher? Nicht in Sicht. „Mein Publikum kommt jetzt erst“, glaubt der Verkäufer stylischer Sonnenbrillen.

17:50, Durchgang vom Flohmarkt zum Mauerpark: Auch hier kontrollieren die Brandenburger Polizisten auf „gefährliche Gegenstände“. Ein Pärchen hat auf dem Flohmarkt einen Beistelltisch mit abnehmbaren Metallbeinen erworben – und darf passieren.

19:05, Boxhagener Platz: Hunderte von Polizisten haben den Platz von allen Seiten abgeriegelt. Wer dorthin will, muss Durchsuchungen über sich ergehen lassen. Alle Bierflaschen werden einkassiert. Es herrscht Flaschenverbot.

21:40, Boxhagener Platz: Auf dem Platz tobt die Party. Während die linksradikale Ska-Band „Tiefenrausch“ auf der Bühne rockt, lässt sich ein Stagediver zehn Minuten lang durch die Luft wirbeln. Irgendwann lassen die Zuschauer Gnade walten: Er wird runtergelassen.

21:40, Eberswalder Straße: Das Presseteam der Polizei besteht aus akribischen Beobachtern. „Sie waren doch vor drei Stunden schon mal hier – da trugen sie aber noch keine Mütze“, antwortet einer auf die Frage eines Journalisten und liegt damit ganz richtig. Ansonsten haben die Herren nicht viel zu tun: 500 Menschen seien im Park, besondere Vorkommnisse sind nicht zu vermelden.

23:15, Boxhagener Platz Ecke Grünberger Straße: Die Rockbühne wird weggefahren. Die meist alkoholisierten Jugendlichen wollen noch nicht nach Hause. Einzelne Polizisten werden angepöbelt. Bei den Beamten wächst die Nervosität.

23:20, im Mauerpark: Es fliegen vereinzelt Frisbeescheiben. Das ist nur möglich, weil die Scheinwerfer des benachbarten Jahn-Stadions auch den Park beleuchten. Überhaupt ist die Atmosphäre ziemlich ungemütlich: Die Polizei hat Glasflaschen verboten, der Bezirk offene Feuer, und die Nachbarn im Wedding haben sich über den Lärm der Trommler beschwert – also müssen auch die ruhig sein. Die rund 1.000 Parkgäste trinken Bier aus der Plastikflasche, rauchen Wasserpfeife und hängen rum – um dann meist nach kurzer Zeit wieder abzuhauen. Ein Beamter des Antikonfliktteams nennt das, reichlich realitätsfremd, eine „ausgelassene Partystimmung“. Selten war eine Walpurgisnacht so langweilig – aber es ist, und bleibt, friedlich.

23:24, Boxhagener Platz Ecke Grünberger: Die ersten Gegenstände fliegen Richtung Polizeikette. Einzelne Beamte rennen in die Menge und beginnen, die Werfer gezielt herauszugreifen.

1:05, Boxhagener Platz: Die Polizei will offenbar Feierabend machen. Per Lautsprecheransage fordert ein Sprecher die verbliebenen 300 Teilnehmer auf, den Platz zu verlassen. Als diese dem nicht nachkommen, beginnen die Beamten, die Feiernden zu verjagen. Am frühen Morgen zieht die Polizei eine positive Bilanz der Walpurgisnacht: 48 Festgenommene, die meisten, weil sie kleine Mengen Drogen bei sich führten. Es sei „die ruhigste Walpurgisnacht seit Jahren gewesen“, sagte Polizeipräsident Dieter Glietsch.

1. MAI

10:25, Potsdamer Straße: Gewerkschafter sind schnelle Marschierer. Der DGB-Demonstrationszug, um 10 Uhr am Wittenbergplatz gestartet, erreicht mit rund 10.000 Teilnehmern die Potsdamer Straße. Sein Motto: „Berlin braucht seine Plätze – Arbeits- und Ausbildungsplätze“.

11:05, Unter den Linden: 23 Jogger in roten Ver.di-T-Shirts überqueren die Friedrichstraße. Die Solidargemeinschaft bröckelt: Zwei Läufer wurden von der Gruppe bereits deutlich abgehängt.

11:45, Brandenburger Tor: Ver.di-Chef Frank Bsirske rechnet in seiner Rede mit der Politik der großen Koaltion ab. Diese belaste Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner. Bsirske fordert einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde.

12:30, Brandenburger Tor: Das DGB-Volksfest mit Bier und Bratwurst beginnt. Mit 3 Euro ist die Wurst hier so teuer wie kaum anderswo in Berlin. Wie viel sie verdient, möchte die Verkäuferin aber nicht verraten. Der Mindestlohn wird es hoffentlich sein. „Wenn’s sich nicht lohnen würde, würde ich nicht hier stehen“, sagt sie.

13:10, Oranienplatz: Die Kundgebung des maoistischen „Revolutionären 1.-Mai-Bündnisses“ beginnt. Das Motto: „Eine andere Welt ist möglich“. Noch sind mehr Menschen mit Kamera und Fotoapparat unterwegs als Demonstranten. An jeder Ecke stehen drei Polizisten, einige kontrollieren Passanten.

14:10, Oranienstraße: Türkischstämmige Familien verkaufen gegrillte Hackspieße. Am Heinrichplatz läuft der Soundcheck für ein Konzert. Familien mit Kindern schlendern über das Fest und kaufen Zuckerwatte.

14:30, Oranienplatz: Die Einsatzhundertschaften der Polizei haben eine neue Kennzeichnung auf dem Rücken und neue Overalls bekommen. Das Grün ist jetzt etwas heller. Extra für den 1. Mai? „Nein, zur WM“, verrät ein Beamter. Aber heute werde sie zum ersten Mal ausgeführt.

14:35, Oranienstraße: Der Demonstrationszug der Maoisten setzt sich in Bewegung. „Viva la Revolución!“-Rufe ertönen.

14:45, Naunynstraße: Vor dem Jugendzentrum Naunynritze hat sich eine Traube von 100 Migrantenkids vor einer Bühne postiert. Auf deren Brettern wird ein Wettkampf in Head-Jumps ausgetragen. Im Klartext: eine Hand auf den Boden, Arm und Beine nach oben und dann so oft strampeln, wie möglich, ohne umzufallen. Ali schafft es 15-mal – bisher der Rekord.

14:55, Görlitzer Bahnhof: Die Lautsprecherstimme stoppt den Demozug. „Das ist die falsche Richtung.“ Die ersten machen kehrt. Dann heißt es: „War doch richtig, weiter geradeaus.“

15:00, Checkpoint Charlie: Die Jungen Liberalen wollen gegen Berlins Kultursenator Thomas Flierl (Linkspartei) und den PDS-Ehrenvorsitzenden Hans Modrow demonstrieren. Beide seien „Stasi-Ideologen“. 50 Teilnehmer sind angemeldet. Die zuständigen Polizisten suchen – und finden fünf JuLis an der Ecke. „Wir haben auch überlegt, näher an die linken Demos zu gehen, aber das war uns dann doch zu gefährlich“, sagt die Vorsitzende Daniela Langer.

15:20, Mariannenplatz: Der Platz ist in Rauchschwaden von Würstchen- und Dönergrills getaucht, unzählige Menschen sitzen auf dem Rasen, essen, trinken, schlafen und telefonieren zu den Klängen von türkischer Folkloremusik. Es gibt nur ein Problem: Sobald die Sonne weg ist, wird es ungemütlich kalt. Insgesamt feiern auf dem Myfest weit über 10.000 Menschen.

16:00, Reuterplatz: Polizeipräsident Dieter Glietsch beobachtet den vorbeiziehenden Demozug der Maoisten. „Ich bin mit dem Verlauf des 1. Mai sehr zufrieden.“ Zur aktuellen BZ-Schlagzeile meint er: „Ich frage mich, wo die das hernehmen.“

16:27, Speewaldplatz: Ein drei Meter großer Krake aus Pappmaché namens „Superprekaria“ mit einer alten Badezimmermatte auf dem Kopf winkt mit seinen Fühlern die Demoteilnehmer herbei. Es funktioniert: Mindestens 4.000 Menschen kommen zum Startpunkt der ersten Berliner Mayday-Parade.

17:15, Spreewaldplatz: Die Parade beginnt mit Grußbeiträgen unter anderem aus Paris. Das Motto der Demo: „Für soziale Rechte weltweit“. Beteiligt sind auch viele Flüchtlingsinitiativen, Kreuzberger Musikinitiativen, Arbeitslosengruppen, Attac, die Jusos sowie autonome und andere linke Gruppen.

17:40, Oranienplatz: Elf junge Männer und Frauen nähern sich dem Platz, wo eine nicht angemeldete, aber angekündigte Demo beginnen soll. Die Zivilpolizisten tragen noch ihre Westen mit „Polizei“-Aufschrift. Von einer Ecke aus beobachten sie den Platz. Auf Nachfrage sagen sie, dass sie nach „relevanten Jugendlichen“ Ausschau halten sollen. Auf dem fast vollen Platz spielt eine Reggaeband. Es riecht stark nach Gras.

17:45, Naunynstraße: Türkische Kids wollen mit einem Rapper ein Musikvideo in einem Hinterhof in der Naunynstraße drehen. Der ist aber schon besetzt – von einer Gruppe grillender Polizisten. Sie weisen die Jugendlichen ab, die Stimmung wird aggressiv: Über 100 Migrantenkids rennen daraufhin durch die Straße und brüllen: „Fickt die Polizei!“ Später dürfen sie dann in der Naunynritze drehen.

18:08, Oranienplatz: Vom Platz bricht die befürchtete Spontandemo mit anfangs rund 200 Teilnehmern mit schwarzen Kapuzen und roten Flaggen Richtung Mariannenplatz auf. An ihrer Spitze ein Transparent mit der Aufschrift: „Kein Krieg, kein Hartz, kein Demoverbot. 1. Mai – Straße frei“. Die Passanten räumen hektisch den Weg. Die Polizei ist nicht sichtbar.

18:20, Mariannenplatz: Berlins Verfassungsschutzchefin Claudia Schmid läuft in der Spontandemo mit, die laut Polizei auf bis zu 1.000 Teilnehmer angewachsen ist. „Für die interessiert sich sonst niemand“, freut sich Schmid. Insgesamt sei es „wunderbar friedlich“. Auch Polizeipräsident Dieter Glietsch wird in der Demo gesichtet.

18:22, Rütlistraße, vor der Rütli-Schule: Redner des Maydaybündnisses kritisieren die „Verdrehung der Tatsachen, dass ausgerechnet die Menschen, die unter dem miserablen Bildungssystem am meisten zu leiden haben, zu Sündenböcken erklärt werden.“

18:30, Mariannenplatz: Zwei junge türkische Männer mit T-Shirts, auf denen „Protection Kreuzberg“ steht, bewachen ein Loch im Straßenpflaster, aus dem Steine ausgebuddelt worden sind. Im Hintergrund tanzen fast hundert türkische Jugendliche, zum Teil mit Kopftüchern, wild zu türkischer Folklore.

18:35, Mariannenplatz: Die Spontandemo von Autonomen löst sich wieder auf.

19:45, Oranienplatz: Innensenator Körting gibt eine spontane Pressekonferenz. Er ist hoch zufrieden mit dem bisherigen Verlauf des Fests und lobt vor allem die Zusammenarbeit mit den Verbänden der Migranten.

19:53, Hermannplatz: Aktivisten des Mayday-Bündnisses haben ein zehn Meter langes Umsonstbuffet aufgebaut mit Nusstorten und Lachsschnitten – „sponsored by yo mango“ (spanisch für „ich klaue“), steht auf einem Transparent. Fünf Minuten später endet hier die friedliche Demo.

20:05, Hermannplatz: Das Mayday-Buffet ist geräumt.

20:18, Waldemarstraße: Eine zweite Spontandemo zieht durch den Kiez. Auf dem Fronttransparent steht „Myfest ist scheiße. Für einen revolutionären 1. Mai“. Unter den mehreren hundert Teilnehmern sind viele junge und auch Migranten. Es werden Feuerswerkskörper geworfen.

20:49, Manteuffelstraße: Polizeipräsident Glietsch pirscht in einer Gruppe von sieben dunkel gekleideten Herren durch die Menge, vergeblich auf der Suche nach Krawall.

20:55, Mariannenplatz: Kreuzbergs CDU-Chef Kurt Wansner langweilt sich: „Früher war es interessanter“, meint er.

21:12, Heinrichplatz: Kleine Scharmützel mit der Polizei. Es fliegen Flaschen und Knaller. Die Polizei reagiert vorerst zurückhaltend und geht dann kurz gezielt gegen die Werfer vor. Die Atmosphäre ist gespannt. all, bischs, flee, ga, plu, rot, sil