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Archiv-Artikel

Kreuzberg zeigt kurz Flagge

Der 1. Mai verläuft bis zum späten Abend so friedlich wie nie. Dann fliegen Steine. 4.000 Menschen kommen zur Mayday-Parade, 10.000 zum Myfest. Polizeipräsident läuft auf Autonomen-Demo mit

Es war ein 1. Mai, der fast die Zuschreibung „revolutionär“ verdient hätte. Fast. Denn am späten Abend kam es dann doch noch zu Scharmützeln zwischen Demonstranten und Polizisten. Ab 21 Uhr flogen Steine und Flaschen – bis zum Redaktionsschluss. Zuvor hatten tausende Menschen friedlich auf mehreren linken Umzügen demonstriert. „Wir sind auf dem richtigen Weg“, sagte Innensenator Ehrhart Körting (SPD) da noch. Die Krawall machende Fraktion sei nachdenklicher geworden, vermutete er, was sich später als Fehlschluss erweisen sollte. Körting lobte eine „Repolitisierung“. Und damit hatte er Recht.

Denn dem „Bock auf Randale“ stand ein „Lust auf Politik“ gegenüber. Das beste Beispiel lieferte die Mayday-Parade, die in Berlin Premiere feierte. Über 4.000 DemonstrantInnen wandten sich gegen prekäre Arbeitsbedingungen und traten „Für soziale Rechte weltweit“ ein, so das Motto des Zuges. „Wir wollen auf die unbestimmte Angst vieler in der Gesellschaft aufmerksam machen, die nicht wissen, wie es weitergeht“, sagte Mayday-Sprecher Philipp Stein. Zum Beispiel die Angst von Flüchtlingen, von 1-Euro-Jobbern, aber auch von Praktikanten. Von sieben Paradewagen schallte laute Musik. Die Demo zog auch an der Neuköllner Rütli-Schule vorbei und thematisierte dort Bildungspolitik. „Die, die am meisten unter dem miserablen Bildungssystem leiden, werden zu Sündenböcken erklärt“, sagte ein Redner mit Blick auf die Hauptschuldebatte. Rund um Oranien-, Mariannenplatz und Kottbusser Tor feierten weit über 10.000 BürgerInnen auf dem Myfest, das erneut mit mehreren Bühnen lockte. Das Fest des Bezirksamtes sei mehr als eine unpolitische Kiezfete, findet Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer (Linkspartei): „Es ist gelungen, noch mehr Migrantenorganisationen einzubinden als in den Vorjahren.“ Dass der Türkische Bund und andere Verbände dabei seien, stärke den Zusammenhalt im Kiez, sagt Reinauer. „Es herrscht eine neue Wertschätzungskultur.“

Gegen 18 Uhr trafen sich am Oranienplatz rund 200 Autonome. Mit schwarzen Kapuzen und roten Flaggen zogen sie spontan durch das Kiezfest. Nach ein paar Runden um die Blöcke löste sich der Zug ebenso spontan am Mariannenplatz wieder auf. Von einem Skandal berichtete der Linkspartei-Abgeordnete Udo Wolf: Polizeipräsident Dieter Glietsch sei in dem Zug mitgelaufen. „Das ist die Sensation des Abends.“ Ein Großaufgebot von 5.500 Polizisten war vor Ort. Ein Sprecher meldete nur „vereinzelte Festnahmen“ von Leuten, die sich vermummt hatten oder Pflastersteine dabeihatten.

Auch andernorts wurde Politik gemacht. Auf der traditionellen Gewerkschaftsdemo des DGB in Mitte mit mehr als 10.000 Teilnehmern machte sich Ver.di-Chef Frank Bsirske für einen Mindestlohn stark (Text unten). Ebenfalls traditionell, aber wesentlich radikaler ist die „Revolutionäre 1. Mai-Demonstration“. Den Aufrufen maoistischer und kurdischer Organisationen waren rund 800 Menschen gefolgt.

Schon in der Walpurgisnacht war es ruhig geblieben. Im Mauerpark tranken rund 800 Jugendliche Bier aus Plastikbechern, die Polizei hatte Glasflaschen verboten. Am Boxhagener Platz wurden 48 Jugendliche festgenommen, zumeist weil sie kleine Mengen Drogen dabeihatten. „Die ruhigste Walpurgisnacht seit Jahren“, sagte der Neu-Autonome Glietsch.

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