Auch 1934 noch nichts geahnt

MUSIK-GESCHICHTE Zwei Jahre offizieller historischer Aufarbeitung der NS-Geschichte der Dommusik haben kein klares Ergebnis gebracht, sagt der Musikhistoriker Michael Zywietz

„Immerhin hat 1934 fast niemand geahnt, welch böses Ende das Hitler-Regime und mit ihm unser ganzes Leben nehmen würde“

Von KLAUS WOLSCHNER

Im Mai des Jahres 2009, 64 Jahre nach dem Ende der Nazizeit, hat die Domgemeinde eine distanzierende Tafel neben dem Domportal anbringen lassen, das ein antisemitisches Bildnis zeigt. Die Gemeinde will sich auch der Geschichte ihrer Musik in der braunen Zeit stellen: Der Musikhistoriker Michael Zywietz von der Hochschule für Künste ist vor zwei Jahren damit beauftragt worden, sich die Akten anzusehen. Am Freitag stellte er vorsichtige erste Ergebnisse vor. Er betonte, eine klare Bewertung der Rolle des damaligen Domkantors Richard Liesche könne er aufgrund des vorliegenden Material nicht vornehmen.

Auf der Internetseite der Domgemeinde wird Liesche dagegen seit jeher von jeder persönlichen Verantwortung freigesprochen. Das Muster dieser Geschichts-Aufarbeitung ist dort in entwaffnender Weise dargestellt – wörtlich: „Immerhin hat 1934 fast niemand geahnt, welch böses Ende das Hitler-Regime und mit ihm unser ganzes Leben nehmen würde.“

Wieso 1934? War nur das Ende des Hitler-Regimes böse?? Dieser Satz stammt aus dem offiziellen Buch der Domgemeinde zum 150sten Geburtstag des Domchores. Eine Problematisierung der Verstrickung des Chores in die Nazizeit fehlt dort. Proteste gegen die beschönigende Sicht haben die Domgemeinde vor zwei Jahren veranlasst, den Historiker zu beauftragen. Der heutige Kantor Tobias Gravenhorst unterstützt die neue Aufarbeitung durch den professionellen Historiker. Der Autor der Internet-Zeilen, der ehemalige Zoodirektor Götz Ruempler, hat noch bei dem offenbar charismatischen Chorleiter Liesche gesungen, der bis 1947 Kantor am Dom war, er sei eben „nicht neutral“, sagt der.

Durch die Hand des Historikers Zywietz ist der Text der Internetseite auch nicht gegangen, mit dem die Domgemeinde da ihre Geschichtsklitterung plakativ offen legt. „Ich kann bis heute weder von einer Verknüpfung noch von einer Distanz“ des Dom-Kantors vom NS-Regime sprechen, sagt Zywietz – über die politischen Überzeugungen des Kantors würden die von ihm durchgesehenen Unterlagen schlicht nichts hergeben. Und die Akte im Staatsarchiv sei offenkundig einmal gesäubert worden – die Gestapo habe jedes Jahr eine kurze Bewertung über Liesche abgegeben, aber da fehlten einzelne Jahre. Zywietz fordert alle, die eventuell noch auf dem Dachboden alte vergilbte Erinnerungsstücke vom Domchor in jener Zeit haben, auf, sich bei der Gemeinde zu melden.

Aus Verärgerung über die beschönigende offizielle Domchor-geschichte hatte Gerhard Harms sich vor Jahre schon die Unterlagen angesehen. „Schon erstaunlich, wenn ein Historiker um Liesches Engagement für die Nazis in den Akten nichts gefunden hat“, sagt er heute. Allein ein Blick in das Konzertregister des Domchores zeige, „dass es zumindest große Nähen zu den Nazis gegeben hat. Seine Arbeitgeber, die Bauherren des Domes, hätten ihn nicht schon 1933 zwingen können, für den Kampfbund für die Deutsche Kultur mit dem Domchor aufzutreten, jener Organisation, die mit Radikalität die Eliminierung linker, liberaler und jüdischer Intellektueller aus dem Kulturleben betrieb. Wer sich da engagierte, tat das aus Überzeugung.“ Liesche habe deutliche Zeichen gesetzt – bis hin zu „Nordischen Konzerten und Motteten zum Lobe Hitlers“.

1944 sei auf einer Konzertreise nach Pommern „Verleih uns Frieden gnädiglich“ gesungen worden, heißt es auf der Internetseite des Petri-Domes zur politischen Ehrenrettung Liesches. Sinn der Konzertreise sei es gewesen, „bei der Bevölkerung – die russischen Verbände rückten immer näher auf die Reichsgrenze vor – das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stärken“. Übrigens wurde auch „Eile, Herr, uns zu helfen“ gesungen.

Auch die Domgemeinde habe sich „mit dem braunen Bazillus anstecken“ lassen, hatte Dombauherr Hans-George Friedrichs bekannt, als 2009 die Tafel neben dem antisemitischen Bild am Domportal angebracht wurde. Die Gemeinde, so heißt es auf der Schrifttafel, „weiß um das schwere Leid, das Jüdinnen und Juden zugefügt wurde. Auch unsere Gemeinde hatte daran ihren Anteil“. Die Aufarbeitung der Geschichte der Dommusik ist von solcher Reue noch meilenweit entfernt.