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Archiv-Artikel

DER MAI IST JAHRESZEITLICH BETRACHTET VON JEHER ÜBERBEWERTET Jetzt geht alles noch mal auf Tour, weil im Juni alle WM gucken

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Nun ist er also da, der liebe schöne Monat Mai, auf den wir den ganzen Winter lang gewartet haben. Der Mai wurde ja jahreszeitlich betrachtet von jeher überbewertet. Der Wonne-, Liebes- und Frühlingsmonat ist zwar der Monat, in dem in der Natur das stärkste Wachstum stattfindet – aber ist das Grund genug für die ganzen albernen Maibräuche, die doch nur den sinnlosen Zwecken des Winteraustreibens und der Partnervermittlung dienen? Es grünt, es blüht, sprießt, knospt, treibt, wächst und pollt, und gerade wenn die Natur so erblüht, befällt den Menschen ein großer Lebensüberdruss, eine Weltsattheit und Müdigkeit. So wird der Mai zum Monat der Überforderung. Schon am 1. Mai hätte man sich theoretisch zwischen 41 angemeldeten Demonstrationen entscheiden können und jetzt geht das Überangebot grad so weiter.

Auf einen Schlag soll man also die Winterdepression überwinden und outdoor-aktiv werden. Was alles im Mai neu aufmacht: das Prinzenbad, das Kreuzberger Badeschiff, sämtliche Schwimmbäder, das Wannseebad, die Bar 25, aber auch die dreißig anderen Strandbars, dazu die achtzehn Freilichtkinos – es ist einfach zu viel.

Lange hatte man auf die kahlen Bäume im trostlosen Hinterhof gestarrt und jetzt dieses Grün plötzlich, diese weißen blühenden Kerzen der Kastanienbäume!! Es ist schön, aber es kam so plötzlich. Kann man es auch wirklich genießen? Ist man genug draußen, hätte man nicht schon längst das Fahrrad flott machen sollen und sich zu den Tausenden jungen Müttern, alten Punks, Kleindealern, Studenten und Langzeitarbeitslosen in den überbevölkerten Parks gesellen sollen, die da stillen, chillen und grillen? Müsste man nicht Guerilla gärtnern? Muskeln ausdefinieren? Bälle jonglieren, Hunde rumkommandieren? Auch die Konzerte und das Ausgehleben nehmen überhand. Im Mai geht noch mal alles auf Tour, weil im Juni das Publikum fehlt, weil dann alle nur noch draußen sitzen und WM gucken. Nächster möglicher Konzertmonat ist erst wieder der Oktober, deshalb dieses Überangebot, diese Überforderung am Wochenende.

Wenn man zu faul zum Ausgehen ist: Theater geht ja immer. Im Gorki Theater versuchte man Freitag mit „Superschool’s Gesichtsbuch“ das Internet auf die analoge Bühnenform zu übertragen. Klaus Corcilius hielt einen Vortrag zum Glücksbegriff bei Aristoteles und das Mensch gewordene Internet, also das Publikum, und die Blogger stellten die Antwortmaschinen dar. Die Blogger agierten zwar wie ihre fehlbaren digitalen Vorbilder, das Konzept ging trotzdem nicht ganz auf, auch weil das Publikum als Wikipedia versagte, wenig Wissen produzierte und nur alberne Griechenland-Scherze (Aristoteles) machte. Einige anwesende Senioren drehten völlig durch und gefielen sich in dadaistischen Antworten.

Abends dann die Buchnacht in der Oranienstraße. Es war ein schönes Bild, wie in jeder Rösti-Bar, jedem Lebensmittelladen, jedem Café und jeder Taqueria gelesen wurde. Aber auch hier wieder ein krasses Überangebot. Wohin nur mit uns? Zum Jenseitswirt bei Kisch & Co, zu Detlef Kuhlbrodt in den Bierhimmel oder zu Jörg Sundermeier ins Tante Horst? Oder doch ins Möbel Olfe, Max und Moritz, SO 36? Zum Glück ist das Wochenende vorbei und es bleibt vorerst kühl.