Harte Arbeit an der heiligen DNA

CLÁSICO Nach dem 2:1-Erfolg gegen den ewigen Rivalen Real Madrid atmet der FC Barcelona auf, weil die Abhängigkeit von Lionel Messi nicht so groß zu sein scheint wie befürchtet

AUS BARCELONA FLORIAN HAUPT

Nachthimmel über Barcelona, das Flutlicht glitzert, die Blitzlichter der Handykameras tanzen durch die steilen Ränge des Camp Nou. Was haben Fußballfans eigentlich 90 Minuten lang gemacht, bevor es das Mobiltelefon gab? Eine zweitrangige Frage, als der Rasen zum Trampolin wird für die Jubelsprünge von Alexis Sánchez, den sein eigenes Tor gerade selbst am meisten verzaubert. Auf Jahrzehnte wird es in keiner Hitliste der Duelle zwischen dem FC Barcelona und Real Madrid fehlen – neben den Meisterwerken von Messi, Ronaldinho, Romário, Ronaldo, Cruyff und Di Stéfano. Der Clásico hat einen neuen Klassiker geboren, „la vaselina de Alexis“, die Bogenlampe von Alexis: gelupft von hinter der Strafraumgrenze, mit dem Verteidiger daneben und über den Torwart hinweg.

Der Chilene Alexis hat schon vorher eine gute Saison gespielt, aber nur solche Tore in so großen Spielen können die Geschichte umschreiben, das Etikett vernichten, das bisher auf ihm klebte. Der ist kein Barça-Spieler, hieß es hier nicht selten über den Angreifer, der immer ein bisschen zu hektisch wirkte, ein bisschen zu bemüht. Vorige Saison hat er mal zehn Monate lang kein Tor geschossen, oft wurde er ausgepfiffen. Noch als er in dieser 78. Minute an die Strafraumgrenze zog, den Torwart im Weg und anfangs auch noch den Verteidiger, als er abstoppte und seine Optionen abwog, noch da war ein leichtes Grummeln auf den Rängen zu hören. Wenige Sekunden später schallten „Alexis“-Chöre durch die Schüssel.

Gut fünf Minuten später wurde es sogar noch lauter: Da stand die Ehrung eines anderen Barça-Stürmers an. Neymar wurde ausgewechselt, der neue Brasilianer, der das erste Tor des Abends erzielt hatte; wenige Augenblicke nach der katalanischen Unabhängigkeitsdemonstration, die Teile des Publikums bei jedem Heimspiel nach 17 Minuten und 14 Sekunden inszenieren, weil 1714 der spanische König den Katalanen ihre Freiheitsrechte nahm. Gegen Madrid wird das alles natürlich noch ein bisschen feuriger vorgetragen, in die „Independencia“-Rufe hinein spielte der starke Iniesta auf links zu Neymar, und als ob die Welle des katalanischen Separatismus den Hauptstädtern die Beine gefrieren ließ, gestatten sie ihm einen Schlenzer ins lange Eck. Neymars Kunst vermittelt den Fans das Gefühl, dass dieses Team nicht nur eine große Vergangenheit hat, sondern vielleicht auch eine Zukunft.

Dieser Clásico änderte auch für Neymar die Geschichte, der 21-Jährige ist jetzt kein Versprechen mehr, sondern eine Gewissheit. Als sich der zarte Bursche nach Spielende davonmachte, auf dem Rücken einen Rucksack mit Sternchennieten, nahm er seine neongrüne Kappe ab und wischte sich Schweißperlen von der Stirn. Heros des FC Barcelona zu sein ist aufregend. Und anstrengend.

Aber war da nicht noch ein Stürmer? Richtig. Am Ende hatte Barcelona gegen ein Real Madrid 2:1 gewonnen, das erst in der Nachspielzeit zum Anschlusstor kam und durchaus zurecht mit einem nicht gegebenen Elfmeter an Cristiano Ronaldo haderte. Barça also gewann – und Lionel Messi hatte nichts damit zu tun.

Im engeren fußballerischen Sinne ist die Unabhängigkeit fürs Erste also schon hergestellt. „Messi-Dependencia“ lautete in den letzten Jahren das sorgenvolle Schlagwort aller Analysen. Wenn Messi seine Tore schoss, ging es Barça gut; war er nicht dabei oder malad, so wie vorige Saison im Champions-League-Halbfinale gegen die Bayern, ging gar nichts. Gegen Madrid blieb Messi blass, trotzdem gewann Barcelona nach sechs vergeblichen Versuchen wieder einen Clásico. Man mochte also erwarten, dass Trainer Gerardo Martino ein gefeierter Mann war, denn das Team breiter aufzustellen ist ja sein Auftrag. Aber da kennt man die Barça-Seele schlecht: Der Argentinier musste sich böse Fragen gefallen lassen. Ob es Absicht gewesen sei, dass sich sein Team streckenweise so weit zurückgezogen habe? Martinos Kritiker sind sich sicherer denn je: Der Mann, unter dem Barcelona kürzlich erstmals seit fünf Jahren weniger Ballbesitz hatte als der Gegner, will an die DNA dieser Elf.