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Archiv-Artikel

Die Stunde der türkischen Falken

Die jüngste Gewaltwelle in der Osttürkei kam unerwartet. Die kurdische PKK mobilisierte vor allem Halbwüchsige aus den Slums von Diyarbakir. Die Regierung reagiert planlos

Die Gewalt in den kurdischen Gebieten ist auch Folge der anhaltenden sozialen Marginalisierung

In den vergangenen Jahren machte sich der Eindruck breit, dass der Konflikt der Kurden mit dem türkischen Staat der Vergangenheit angehöre. Insbesondere seit der Regierungsübernahme der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan, herrschte Aufbruchstimmung. Kurdische Abgeordnete wie Leyla Zana, die zehn Jahre in Haft gesessen hatten, erhielten noch vor zwei Jahren eine Einladung beim türkischen Außenminister. Erst im Sommer vergangenen Jahres empfing der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan Intellektuelle, die die staatliche Politik im kurdischen Konflikt angegriffen hatten. Der Ministerpräsident verstand sich gut mit den Gästen. „Mehr Demokratie, mehr Bürgerrechte, mehr Wohlstand“ sei der Schlüssel für eine „friedliche Lösung der Kurdenfrage“.

Noch vor einem Jahrzehnt leugnete der türkische Staat die Existenz des kurdischen Volkes. In den vergangenen Jahren passierten eine Reihe von Gesetzesreformen das Parlament. Kurdische Zeitschriften und Bücher – einst ein Tabu – werden frei verkauft. Der Ausnahmezustand, der fast drei Jahrzehnte fundamentale Bürgerrechte einschränkte, ist längst aufgehoben. Doch die Annahme, langsame Demokratisierung werde den Konflikt von alleine beenden, ging nicht auf. Die Regierenden in Ankara hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Den Kriegsprofiteuren im staatlichen Apparat kommt Frieden ungelegen. Und trotz Schwächung hat die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) weiterhin erheblichen Einfluss auf die Koordinaten der Politik.

Wenn heute von der kurdischen Frage die Rede ist, ist von Gewalt die Rede. Von toten Soldaten und Guerilleros, von Bomben, von Straßenschlachten und Plünderungen. Mit Gewalt ist die kurdische Frage im Frühjahr in den politischen Mittelpunkt gerückt. Das Begräbnis von PKK-Kämpfern im kurdischen Diyarbakir Ende März löste blutige Krawalle aus. Es waren vor allem Kinder und Jugendliche, die sich Gefechte mit der Polizei lieferten. Im Zuge der Unruhen, die auch in den Städten Hakkari, Batman und Mardin ausbrachen, kamen über ein Dutzend Menschen ums Leben. Die PKK legt wieder Bomben, nachdem sie den Waffenstillstand aufgekündigt hat. Drei Menschen starben bei einem Brandanschlag auf einen Autobus. Im bürgerlichen Wohnviertel Bakirköy in Istanbul detonierte eine Bombe in einem Müllcontainer. Erst vergangenen Mittwoch detonierte ein Sprengsatz in einem Bus in der Provinz Hakkari. 21 Personen, unter ihnen 11 Kinder, wurden verletzt.

In der Geschichte liegt der Schlüssel zum Verständnis des Konflikts. Mit dem bewaffneten Kampf, den die PKK 1984 begann, drang die kurdische Frage als politisches Problem in den Blickwinkel der Öffentlichkeit. Fast vierzigtausend Menschen starben in den 80er- und 90er-Jahren im Zuge der militärischen Auseinandersetzungen zwischen türkischer Armee und PKK. Hauptleidende waren Zivilisten. Über eine Million kurdischer Bauern wurden aus ihren Dörfern vertrieben, weil sie der Unterstützung für die PKK bezichtigt wurden.

Das Jahr 1999 war ein Wendepunkt. Die PKK-Kämpfer waren militärisch besiegt, ihr Führer Abdullah Öcalan, der stalinistisch die Organisation leitete, kam in türkische Haft. Öcalan erhielt die Todesstrafe, die später in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt wurde. Nur halbherzig begann unter starkem europäischen Druck ein politischer Liberalisierungsprozess. Der türkische Staat meinte, mit Öcalan in Haft und einer militärisch geschwächten PKK seien die Karten gefallen. Ein Irrtum, wie sich herausstellte.

Die Ereignisse in Diyarbakir im März unterscheiden sich erheblich von den Protesten in den 90er-Jahren, als die PKK in den kurdischen Regionen breite Unterstützung zu Protesten organisieren konnte. Es waren die Ärmsten der Ärmsten, die diesmal mit Eisenstangen und Brandsätzen auf die Straße zogen. Es waren kurdische Einzelhändler, deren Geschäfte geplündert wurden. Selbst der Bürgermeister von Diyarbakir konnte die jugendlichen Aktivisten nicht stoppen. Die politisch geschwächte PKK mobilisierte die Halbwüchsigen in den Slums von Diyarbakir. Träger der Gewalt war eine Generation, die Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre geboren ist. Kinder von Familien, die aus ihren Dörfern vertrieben wurden und in den Armutsslums der Großstädte leben. Eine Generation, die mit Gewalt groß geworden ist. Abdullah Öcalan wird von ihnen einem Gott gleich verehrt. Nicht deshalb, weil es um politische und kulturelle Rechte der Kurden geht, sondern weil die Gewalt eine Antwort auf soziale Marginalisierung darstellt.

Selbst ein kurzer Blick auf die Zahlen des Statistischen Instituts offenbart die starke, regionale Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums. Umgerechnet nur zwei Euro ist die tägliche, durchschnittliche Pro-Kopf-Ausgabe im kurdischen Südostanatolien. Über das Dreifache wird in Istanbul ausgegeben. Die jüngste Gewalt in den kurdischen Städten wird die Situation eher verschlechtern. Mehrere Investoren vertagten bereits angepeilte Projekte in der Region.

Erdogans Regierung macht sich nationalistische Positionen zu Eigen und lässt das Militär gewähren

Die Gewaltwelle kam für viele unerwartet. Auch die Regierung in Ankara wurde offenbar überrascht. Die Regierung unter Ministerpräsident Erdogan macht sich zunehmend nationalistische Positionen zu Eigen. Die Falken bestimmen wieder die Politik. Statt politischer Antworten lässt man das Militär gewähren. 250.000 Soldaten wurden in der Grenzregion zum Irak zusammengezogen. Offensichtlich sind auch Sondereinheiten auf irakischem Territorium gegen PKK-Guerilleros aktiv. Rund 5.000 PKK-Kämpfer sollen sich in Irakisch-Kurdistan befinden. Ministerpräsident Erdogan griff die Politiker der kurdischen Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP) an, die in der Region zahlreiche Bürgermeister stellt. Bevor diese nicht öffentlich die PKK als terroristische Organisation brandmarkten, werde er ein Gespräch mit ihnen verweigern. Die Bürgermeister werden zwischen den Forderungen des türkischen Staates und der PKK, die informell im Parteiapparat großen Einfluss hat, aufgerieben.

Die nationalistischen Einpeitscher geben den Ton an, was wiederum der geschwächten PKK nützt. Ein Ausbruch aus der Spirale der Gewalt scheint fast ausweglos. Dabei könnte die Türkei von anderen lernen. So vom Beispiel der ETA in Spanien oder der IRA in Nordirland. Demokratie allein ist unzureichend. Ob ETA, IRA oder PKK – gemeinsam ist allen Organisationen, dass sie in irgendeiner Form nach Anerkennung streben. Im Fall der Türkei ist die Adresse des Gesprächspartners bekannt. Es sind die Funktionäre und Bürgermeister der DTP, die eine legale Partei ist. Statt Illegalisierung muss mit ihnen das Gespräch gesucht werden. Und nach all dem Unrecht, welches der Staat in der Vergangenheit den Kurden zugefügt hat, ist für politische Integration mehr notwendig als täglich ein 45-minütiges Fernsehprogramm auf Kurdisch. Zum Beispiel eine Amnestie, die ein deutliches Signal für Versöhnungsbereitschaft darstellt. ÖMER ERZEREN