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Archiv-Artikel

Wenn die Wellen noch lernen

FORM Nur polyphones Schreiben lässt den Dingen Gerechtigkeit widerfahren: Der neue Roman von António Lobo Antunes wird Bestand haben

Der Mensch ist selber Kreatur, fühlt sich von Pferden beunruhigt, geht wie ein Stier zu Boden

VON EBERHARD GEISLER

Literatur der Iberischen Halbinsel, die sich mit dem Erbe der Diktaturen auseinandersetzen wollte, hatte es schwer. Oppositionell zu sein bedeutete häufig, die Nähe zur KP zu suchen und damit in letzter Konsequenz jenem monologisch-starren Diskurs verhaftet zu bleiben, den man als faschistischen Ungeist doch gerade bekämpfen wollte. In Spanien war es Juan Goytisolo, der den Blick auf die nichtchristliche, arabische Kultur lenkte und auch formal den Bann der Einheit brach. Für Portugal ist es António Lobo Antunes, der in seinen Romanen wieder und wieder den Verheerungen seiner Gesellschaft in den Jahrzehnten nach dem Regime Salazars nachspürt und dabei ein Schreiben zur Meisterschaft bringt, das von Mal zu Mal polyphoner wird und die Polyphonie als einzige Möglichkeit erkannt, den Dingen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Sein neuer Roman „Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer?“ wendet sich abermals, wie der Autor es schon häufiger getan hat, der portugiesischen Oberschicht zu. Doch die geschilderte Familie ist längst in Auflösung begriffen. Immer wieder wird die Melancholie erwähnt, die im Lissabonner Haus herrscht, und das in der Nähe gelegene Landgut mit Weideland und Vieh ist tief verschuldet und mit Hypotheken belastet. Dass man einstmals nach Paris reisen konnte, ist längst vergessen. Der Vater ist Trinker und verspielt das letzte Geld im Casino; die Mutter liegt im Sterben – die Ärzte in der Klinik haben ihren Tod für 18 Uhr vorausgesagt; auf diesen magischen Zeitpunkt steuert das Buch allmählich zu. Die Beziehung zwischen beiden war lieblos.

Auch die Kinder sind von der Bahn abgekommen, wie sie einer bürgerlichen Familie entspräche, oder gar von Krankheit befallen. João wäre gerne ein Mädchen, trägt Ohrringe, kauft sich, ohne dabei freilich Erfüllung zu finden, Knaben im Stadtpark und ist wahrscheinlich mit Aids infiziert. Rita war krebskrank und lebt bereits nicht mehr. Von Beatriz erfährt man wenig; der Vater bezeichnet sie als Närrin. Ana ist drogensüchtig; man munkelt, dass sie vielleicht in der Säuglingsstation verwechselt worden ist und sich zuletzt auf dem Ödland als Prostituierte anbietet. Es gibt gar einen mysteriösen Bruder, der bei den Angestellten lebt, Besuchern nicht vorgezeigt und dessen Namen verschwiegen wird. Francisco sucht in diesem Verfall das Heft in die Hand zu nehmen; er hasst sämtliche Familienmitglieder und lässt das Testament mit gefälschter Unterschrift zu seinen Gunsten ändern. Zwischen allen herrscht Entfremdung.

Das Buch ist nach den einzelnen Schritten eines Stierkampfs gegliedert: drei Teile, Todesstoß, ein Vorher und ein Nachher. In dieser Corrida bleibt die portugiesische Bourgeoisie auf der Strecke. Zugleich aber, und das ist das eigentlich Faszinierende an diesem Roman, wird hier dem klassischen Erzählen der Todesstoß versetzt.

Zunächst einmal führt Lobo Antunes sein erprobtes polyphones Verfahren fort: die Erzählung wird wechselnd von den verschiedenen Figuren übernommen, aber auch in deren einzelne Diskurse dringen immer wieder die Stimmen der anderen ein. Zudem radikalisiert der Autor die Technik des Bewusstseinsstroms. Die Einsicht, dass es keine einheitliche Instanz mehr gibt, die das Schreiben zu steuern vermöchte, ist hier wie bei wenigen anderen Autoren ernst genommen und Grundlage des Textes geworden. Bewusstsein wird deutlich in seiner Assoziativität, den Unterbrechungen seiner Fokussierungen und seiner fast grenzenlosen Fähigkeit, sich an sämtliche begegnenden, gerade die unscheinbarsten Dinge verlieren zu können und damit auf unauflösliche Widerstände zu stoßen.

Mehrfach wird von den Familienmitgliedern die Frage gestellt, wer und was das Ich sei, ob es nicht von anderen bewohnt sei und am Ende, wenn es rede, gar nicht sich selber, sondern unbekannte andere zum Ausdruck bringe. Dementsprechend herrscht Ungewissheit, wer letztendlich schreibt; die Figuren wenden sich gelegentlich an den leibhaftigen Autor, von dem sie sich geschrieben wissen und dem sie doch eine eigene Authentizität und Lebendigkeit entgegensetzen möchten.

Vom Degen getroffen

Auf diese Weise bricht der Romancier den Scheincharakter der Kunst; sie büßt die Illusion des Vollkommenen, Geschlossenen, Wesenhaften ein – ein Grundzug der Moderne bekanntlich. Und schließlich, was sich auch schon in früheren Büchern des Autors beobachten ließ, fällt die vom Idealismus ängstlich gehütete Barriere zwischen Mensch und Tier: der Mensch ist selber Kreatur, fühlt sich von Pferden beunruhigt, wird als Huhn gerupft, geht wie ein Stier zu Boden, vom Degen getroffen.

Festzuhalten ist noch der für Lobo Antunes typische lyrische Charakter der Sprache, der die Lektüre sperrig, aber auch zum Erlebnis macht: „… wenn wir einen Gegenstand lange anschauen, beginnt er sich zu bewegen …“; „… ich habe nie etwas Einsameres gesehen als den Frauenschuh mit der nach oben gedrehten Sohle“; „… welche Sehnsucht nach dem Meer am Morgen, wenn die Wellen noch lernen“.

Der Autor war mit diesem Buch durchaus noch einmal einer Steigerung fähig und sich möglicherweise bewusst, etwas wie ein Vermächtnis geschaffen zu haben: „… dieses Buch ist dein Testament, António Lobo Antunes.“ Wir müssen anerkennen, dass er die Arbeit seines großen Landsmanns Fernando Pessoa fortführt, der ebenso schon der Dezentrierung des Ich literarische Form gab und die Grenzen zwischen Lyrik und Prosa überwinden wollte. Bekanntlich taugen ja nur Autoren, die anderen Schreibenden etwas lehren. Das ist hier der Fall. Der Roman gehört ins Regal der Bücher, die literaturgeschichtliche Orte markieren und Bestand haben.

António Lobo Antunes: „Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer?“ Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand, München 2013, 448 Seiten, 22,99 Euro