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Archiv-Artikel

Der Aufklärer

Ein unbeschreibliches Gefühl der Euphorie: Dem senegalesischen Filmemacher und Schriftsteller Ousmane Sembène geht es um die Produktion von Erkenntnis – so auch in seinem neuen, beeindruckend klaren Film „Moolaadé – Bann der Hoffnung“

von ANDREAS BUSCHE

Wenn der senegalesische Regisseur Ousmane Sembène von seinem afrikanischen Publikum spricht, benutzt er gerne den Begriff „mein Volk“. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich nicht bloß eine Geste der Solidarität, sie prägt vielmehr seit über vierzig Jahren Sembènes Selbstverständnis als Filmemacher und Schriftsteller. Sembène macht Volkskunst im weitesten, aber auch in einem unmittelbar kommunistischen Sinne. Seine Filme sind eine Gabe an „sein Volk“, ein unerlässliches Instrumentarium der Ermächtigung und ständigen Reflexion. Sembène geht es grundsätzlich um Erkenntnisproduktion; das Medium – ob Roman oder Film – betrachtet er dabei genauso selbstverständlich als Mittel zum Zweck, wie er Europa als reinen Absatzmarkt für seine Arbeiten begreift.

Diese sehr klare, pragmatische Vorstellung von Autorenschaft hat ein bis heute singuläres Gesamtwerk hervorgebracht – nicht nur im regionalen Kontext des afrikanischen Kinos, sondern weit darüber hinaus wirkend. Sembènes Kino bezieht seine Faszination vor allem aus dem Spannungsverhältnis zwischen denkbar einfachen Formen, rhetorischen Figuren, Bildern, Gegenüberstellungen und dem polyphonen Arrangement dieser Einzelelemente zu komplexen, mitunter auch widersprüchlichen Darstellungen des postkolonialen Afrikas. Seine Filmsprache ist ein bewusster Rückgriff auf das vorklassische Kino; lange Einstellungen und dialektische Montagen gehören zu seinen wichtigsten stilistischen Merkmalen. Bewegung ist bei ihm niemals Selbstzweck, sondern erfüllt genauso eine Funktion wie der Stillstand. „Ich will alle unnötigen Worte und Reden entfernen und nur das Essenzielle zeigen“, hat Sembène einmal gesagt. „Wenn jemand spricht, filmt die Kamera es. Wenn Schweigen herrscht, können wir beginnen, mit der Kamera zu schreiben, Orte beschreiben, etwas anderes, hinter der Sprache Verborgenes zeigen.“

„Moolaadé – Bann der Hoffnung“, der zwei Jahre nach seiner Premiere in Cannes nun endlich in die deutschen Kinos kommt, ist eines der eindringlichsten und schönsten Beispiele für Sembènes unverwechselbaren Stil. Er führt neben vielem anderen vor Augen, welch zentrales Problem Sprache in Sembènes Filmen, im afrikanischen Kino im Allgemeinen, darstellt. Gedreht in einem kleinen Dorf in Burkina Faso, sprechen die meisten der Darsteller Bambara, einen Dialekt, der nur in Teilen Westafrikas verbreitet ist. Um den Film in ganz Afrika zeigen zu können, musste „Moolaadé“, als erster Film Sembènes überhaupt, in mehreren Sprachen synchronisiert werden. Ein Aufwand, den der Film in jeder Hinsicht rechtfertigt. „Moolaadé – Bann der Hoffnung“ markiert zusammen mit dem Vorgänger „Faat Kiné“ einen Wendepunkt in Sembènes ereignisreicher Karriere.

„Moolaadé“ ist der zweite Teile der Trilogie „Der alltägliche Heroismus“, mit dem Sembène die Rolle der Frau innerhalb der afrikanischen Befreiungsbewegung und der afrikanischen Gesellschaft würdigt. Emanzipierte, moderne Frauen waren in den Filmen Sembènes immer schon anzutreffen, doch „Moolaadé“ unterscheidet sich noch einmal gravierend von den früheren Arbeiten, auch von „Faat Kiné“, weil der Regisseur das erste Mal die Stadt verlassen hat und sich dem Leben im Hinterland widmet, das stärker als das Leben in Dakar noch von der Vergangenheit und von religiösen Weltanschauungen geprägt ist. Sein Thema verleiht dem Film darüber hinaus Brisanz: Es geht in „Moolaadé“ um die Tradition der so genannten weiblichen Beschneidung – um Genitalverstümmelung, eine Praxis, die inzwischen von 38 Mitgliedern der Afrikanischen Union für ungesetzlich erklärt wird, in den ländlichen Regionen Afrikas südlich der Sahara aber immer noch weit verbreitet ist.

Für Sembène, der seit Jahrzehnten Frauen als die treibende Kraft der afrikanischen Geschicke beschwört („Afrika ist eine Frau“ gehört zu seinen bekanntesten Aussprüchen), ist „Moolaadé“ eine Herzensangelegenheit. Wie ein Schwerstarbeiter begleitet der inzwischen 82-Jährige seinen Film um die Welt, hält Reden, gibt Interviews, ruft zur Diskussion auf. Besonders wichtig ist ihm, den Film in den afrikanischen Dörfern aufzuführen, wo salindé, die Beschneidung von jungen Mädchen, heute noch praktiziert wird. In dieser halböffentlichen Funktion kam Sembène Ende April auch nach Deutschland, auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung, für die der arme Mann auf seine alten Tage noch den Repräsentationskasper machen musste.

Ousmane Sembène ist eine beeindruckende Erscheinung. Wie er so vor einem sitzt, in seiner afrikanischen Stoffhose und seinem orangen „Black World“-T-Shirt, sieht man ihm sein Alter nicht an. Und immer noch gibt er sich kampflustig, wenn man ihn mit den richtig-falschen Fragen traktiert. Seine Antworten, seine Kritik an Europa kommen bestimmt, aber freundlich. Er ist ein höflicher Gast. Auf meine Frage, was es ihm bedeute, im Westen als afrikanischer (und eben nicht als senegalesischer) Regisseur wahrgenommen zu werden, antwortet er sehr direkt: „Alle meine Filme handeln von Afrika. Mir geht es darum, in meinen Filmen zu meinem Volk zu sprechen. Ich beziehe mich dabei auf eine genuin afrikanische Geschichte, unsere Kultur, unsere Philosophie und versuche darüber, die afrikanische Evolution zu beschreiben. Unsere Metaphern oder unsere Musik sind mit denen Europas nicht zu vergleichen. Daraus entsteht für mich allerdings kein Antagonismus. Ich betrachte es lediglich als eine Ergänzung, eine Fortführung der Menschheitsgeschichte. Trotzdem sind wir heute an einem Punkt in unserer Geschichte angekommen, an dem wir uns nicht mehr auf andere verlassen können. Unser Schicksal liegt in unseren eigenen Händen.“

Aufklärung und Bildung sind für Sembène entscheidende Faktoren, sich zum Herrn über das eigene Schicksal aufzuschwingen – er selbst paukte Ende der Fünfzigerjahre als mittelloser Hafenarbeiter Marx, später auch die Schriften von Franz Fanon, Patrice Lumumba und Pablo Neruda. Sembène versteht Kino als eine didaktische Einheit; als „Intellektueller des Volkes“ steht er immer vor der Herausforderung, komplizierte Inhalte und Problematiken allgemein verständlich und dabei emphatisch zu vermitteln.

„Moolaadé“ ist in seiner Ausgewogenheit zwischen Didaktik und Poetik ein kleines, nahezu vollkommenes Wunderwerk. Aus der Figurentypologie geht eine klare Konfliktsituation hervor, einige längere Dialogszenen identifizieren die gesellschaftlichen und politischen Positionen, in denen schließlich auch der Wandel von Tradition zu Moderne nachvollzogen wird. Sembènes Film ist ein klassisches Lehrstück, und doch so viel mehr. Keine trockene Agitpropgrammatik, sondern eine sorgfältig beobachtete Milieustudie, in der jeder Raum, jede Figur eine besondere Funktion einnimmt.

Im Mittelpunkt von „Moolaadé“ steht Collé (Fatoumata Coulibaly), die Zweitfrau von Ciré. Collé ist eine erbitterte Kritikerin der salindé und damit eine Herausforderin der patriarchalen Ordnung. Sieben Jahre zuvor hat sie die Beschneidung ihrer Tochter Amasatou (Salimata Traoré), die nun kurz vor der Heirat mit Ibrahim, dem Sohn des Dorfoberhauptes Hadjatou, steht, untersagt. Aufgrund dieser Vorgeschichte suchen vier junge Mädchen auf der Flucht vor ihrer eigenen Beschneidung Unterschlupf in Collés Hof. Um die Mädchen vor dem Zugriff der salindana, einer kastenähnlichen Gruppe von rot gewandeten Frauen, zu schützen, spricht Collé in der Abwesenheit ihres Mannes einen moolaadé, einen altertümlichen Schutzbann, über die Mädchen und ihr Haus aus. Symbolisch verschließt sie den Eingang ihres Domizils mit einer bunten Kordel. Das Wort hat bei Sembène noch eine spirituelle Kraft. Gebrochen werden kann das moolaadé nur, indem Collé den Bann aufhebt – oder öffentlich für ihren Ungehorsam bestraft wird.

Sembène schildert in „Moolaadé“ eine traditionelle Wertegemeinschaft, in die moderne Einflüsse einbrechen. Zwei Figuren stehen exemplarisch für diesen Wertewandel: Ibrahim (Théophile Sowié), der eine Pariser Erziehung genossen hat, und der „Söldner“ (Dominique Zeïda), ein fahrender Händler, der den Dorfbewohnern bunte Plastikschalen und Kondome verkauft. Aber auch diese Moderne ist nicht unproblematisch. Ibrahim lässt sich, als Hadjatou seine Hochzeit aufgrund der „Unreinheit“ Amasatous platzen lässt, widerspruchslos mit einer Elfjährigen vermählen, und der „Söldner“ ist ein Wucherer, der seine Geschäftspraktiken mit der Globalisierung und den Zwängen des Marktes entschuldigt. Die Frauen des Dorfes bleiben bei Sembène die einzig verlässliche moralische Instanz. Während sie ihre tägliche Arbeit verrichten, läuft ständig das Radio: ihr einziger Zugang zur modernen Welt. Später landen die Radios auf einem Scheiterhaufen, wo sie weiter vor sich hinquäken.

Kino hat für Sembène nichts Metaphysisches. „Es ist“, sagt er, „keine große Sache. Es geht immer nur um Menschen. Der eigentliche Film entsteht im Kopf selbst. Das ist viel wichtiger als das, was auf der Leinwand zu sehen ist.“ Mit „Moolaadé“ bezieht Sembène sich vor allem auf die afrikanische Tradition der griots, Geschichtenerzählern, die über Jahrhunderte den Dreh- und Angelpunkt von versprengten Dorfgemeinschaften darstellten, als Bewahrer einer für die afrikanische Identität unerlässlichen oral history. Modernität ist für Sembène nicht um jeden Preis zu haben.

Wie problematisch Sembène selbst die Situation seines Kontinents als Spielball zwischen Tradition und Moderne sieht – auch ein Grund, warum er ein entschiedener Gegner der verklärenden Négritude-Bewegung um Léopold Senghor gewesen ist –, zeigt sich in „Moolaadé“ in einer kurzen Bemerkung des „Söldners“ gegenüber Ibrahim. „Africa is a bitch!“, heißt es in der englischen Übersetzung. In der deutschen Untertitelung wird daraus ein „afrikanisches Miststück“, ein bedauerlicher Fehler, weil Sembène selten so deutliche Worte gefunden hat.

Zugleich genügt Sembène eine einzige Montage, um den Bruch zwischen Tradition und Moderne in seinen Filmen zu überbrücken. Am Ende von „Moolaadé“ schneidet er von dem Straußenei, das seit über 150 Jahren auf der Spitze der Moschee sitzt, auf eine Fernsehantenne und suggeriert damit die Möglichkeit zur Veränderung. So einfach funktioniert das Kino des Ousmane Sembène. Die zwingende Logik hinter dieser geradlinigen Bewegung ist frappierend; eins führt zum anderen, A nach B. „Kino ist Mathematik“, erklärt Sembène auf meine Frage hin. Dieses Bild ist nicht von der Hand zu weisen. Wie beim Lösen einer komplizierten mathematischen Gleichung, die am Ende auf wundersame Weise aufgeht, verspürt man auch nach einem Sembène-Film ein unbeschreibliches Gefühl der Euphorie.

„Moolaadé – Bann der Hoffnung“,Regie: Ousmane Sembène.Mit Fatoumata Coulibaly, Maimouna Helene Diarra u. a., Senegal/Frankreich 2004, 124 Min.