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Archiv-Artikel

Das Placebogesetz

Das neue Verbrauchergesetz verspricht mehr Rechte. Experten halten es für unwirksam

AUS BERLIN HANNA GERSMANN

Die 100-Gramm-Tafel Schokolade wiegt 100 Gramm – weit gefehlt. In jeder zehnten Schachtel, aber auch Tüte oder Dose ist weniger drin, als auf dem Etikett steht. Das hat das Bundeswirtschaftsministerium in seiner Füllmengenstatistik ermittelt. Lindt? Milka? No Name? Wer für den Betrug an der Ladentheke verantwortlich ist, bleibt geheim. Das soll sich ändern – im Prinzip.

Bundesverbraucherminister Horst Seehofer war noch keine hundert Tage im Amt, als er sich als unerbittlicher Kämpfer (Nulltoleranz?) gegen Pfuscher gab. Es war Dezember und kurz zuvor waren verdorbenes Hack und Schlachtabfälle in Tortellini aufgetaucht. Der CSU-Mann versprach „die schwarzen Schafe abzuschrecken“ – mit einem Verbraucherinformationsgesetz. Das ist nun aber selbst eine Mogelpackung geworden. Denn der Kern des knapp gehaltenen Gesetzes regelt nur, dass die Behörden künftig die Bürger auf Anfrage im Prinzip darüber informieren können, welche Firma ihnen welche Dinge ins Essen panscht.

Heute wird das Regelwerk erstmals in den Bundestag eingebracht, nicht wie sonst üblich von der Bundesregierung, sondern von den Fraktionen der Union und der Sozialdemokraten. Die Grundlage ist dennoch ein Entwurf aus Seehofers Haus, „Formulierungshilfe“ nennt sich das. Dieses Verfahren ist schneller und macht allzu laute Kritik schwierig. „Das ist nicht das, was wir eigentlich wollten“, heißt es in der SPD verhalten.

Kaum einer hält das Gesetz für wirkungsvoll. Edda Müller, Chefin des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen, empört sich: „Das ist ein Placebo.“ Jürgen Resch von der Deutschen Umwelthilfe schimpft: Es „schützt nur Unternehmen vor insistierenden Auskunftsbegehren“. Und der Dresdener Wirtschaftsjurist Stefan Ansgar Strewe redet von „Augenwischerei“. Mit dem einstigen Anspruch Seehofers habe das Gesetz nichts zu tun.

Dabei hörte sich die ursprüngliche Idee logisch an: Verbraucher müssen nicht alles kaufen, was ins Regal kommt. Sie erfahren, wenn die Tiefkühlpizza schimmligen Schinken, der Filzstift giftige Chemie enthält. Der Effekt: Anrüchige Qualität verkauft sich nicht. Über kurz oder lang fliegt sie aus dem Sortiment. Die verbraucherpolitische Sprecherin der CDU, Ursula Heinen, warb denn auch: „Die Union steht für eine umfassende Regelung der Verbraucherinformationsrechte“.

„Umfassend“ sind nun aber allein die Gründe, warum es keine Informationen gibt: Der Kunde bekommt allenfalls Hinweise zu Lebensmitteln, Textilien und Kosmetika, die anderen Produkte sind von vornherein ausgeschlossen. Wünscht er eine Auskunft direkt vom Hersteller, hilft ihm das Gesetz auch nicht weiter. Die Industrie muss keine Fragen beantworten. „Die Firmen würden lahm gelegt, bekämen sie dauernd Faxe und Anrufe“, verteidigt Heinen. Also sollen Behörden Antworten geben.

Der Verbraucher muss jedoch erst einmal die richtige Behörde finden, einen schriftlichen Antrag stellen, dafür zahlen und bis zu drei Monate warten – um dann auch von den Beamten nicht viel zu erfahren. „Fast jede Anfrage kann abgewiesen werden“, meint Rechtsanwalt Strewe. Die Behörde muss schon dann nichts sagen, wenn sie das Betriebsgeheimnis bedroht sieht. „Wir können nicht verlangen, das Coca-Cola-Rezept auszuplaudern“, meint Heinen.

Mit dem Betriebsgeheimnis lässt sich aber vieles zu den Akten legen. So hat Verbraucherschützerin Müller schon versucht herauszubekommen, wer Schokoladen schwerer macht als sie sind. Sie wandte sich an die Eichdirektion Nord, die die Waagen in den Unternehmen prüft. Als diese blockierte, klagte Müller. Die Richter des Oberverwaltungsgerichts Schleswig-Holstein wiesen ihr Anliegen jedoch ab. Begründung: Unternehmen, die genannt würden, entstünden Wettbewerbsnachteile.

Thilo Bode von der Verbraucherorganisation Foodwatch prophezeit: „Die Behörden werden so wenig Informationen wie möglich rausgeben.“ Zumal auf ihnen der Fall Birkel lastet. Das Land Baden-Württemberg kostete eine Warnung des Stuttgarter Regierungspräsidiums vor „mikrobakteriell verunreinigten“ Nudeln 6,5 Millionen Euro Schadenersatz. Nach einem langen Rechtsstreit war klar: Die Nudeln waren nicht perfekt, aber auch nicht gesundheitsschädlich. Geheimniskrämerei hätte sich ausgezahlt, gerechtfertigt ist sie nicht.

Andere Länder fürchten auch nicht die Klagen der Lebensmittelindustrie. Die Briten haben eine staatliche Agentur etabliert, die Food Standard Agency, die Gammel und Ekel im Internet öffentlich macht. Die Dänen verpflichten Supermärkte und Frittenbuden, die Ergebnisse der Lebensmittelkontrollen am Eingang aufzuhängen. In Ungarn ist das ähnlich. Nur in Deutschland lässt sich die Zusammensetzung des Abwassers leichter herausfinden als die der Wurst – unken jetzt Verbraucherschützer. Sie hätten es ahnen können.

Vor gut vier Jahren wollte schon Seehofers grüne Vorgängerin Renate Künast ein Gesetz für mehr Kundenrechte schaffen. Sie scheiterte – an den unionsgeführten Ländern. Seehofer hat sich nun im Voraus mit den Landesfürsten abgesprochen und sich somit die Zustimmung im Bundesrat gesichert. Genau wie die im Bundestag.

SPD-Abgeordnete, die mehr Bürgerrechte wollten, werden einfach vertröstet – mit einem Antrag, den die Fraktionen zusätzlich zum Gesetzentwurf einbringen: Die Firmen sollen aufgefordert werden, den Kunden von sich aus mehr Informationen zu liefern. Gehen sie darauf nicht ein, so die Drohung, soll es eine neue Regelung geben.

Schweigen, Beschönigen, Tricksen ist vorerst kein Problem. Verbraucherschützerin Müller schätzt, dass die Deutschen jedes Jahr einen Betrag „in dreistelliger Millionenhöhe“ zu viel zahlen für untergewichtige Nahrungsmittel. Dem Kunden bleibt offenbar nur eins: mit Waage in den Laden gehen.