: Folterszenen im Berliner Knast
Im September 2005 misshandelten vier Gefangene in Tegel einen Mithäftling. Gestern begann der Prozess vor dem Landgericht. Er offenbart auch unhaltbare Zustände in überfüllten Gefängnissen
VON UTA FALCK
In der Nacht vom 8. zum 9. September 2005 teilen sich sechs Häftlinge eine Zelle in der JVA Tegel: ein Mazedonier, ein Libanese, ein Türke, ein Mongole und zwei Deutsche, Andreas R. und Thomas G. Sie verbringen nicht die erste Nacht zusammen. Nasser H., der Libanese, hat erfahren, dass Thomas G. wegen versuchten Mordes eines 14-Jährigen einsitzt. Aus Zeitungen meinen sie zu wissen, dass Thomas G. ein Sexualstraftäter sei. Obendrein war sein Opfer ein entfernter Bekannter von Andreas R. Der Libanese sagt zu dem Türken Mücahit C. „Wir müssen ihn bestrafen. Wir haben auch Kinder.“
Nach Einschluss um 22 Uhr geht es los. Der Libanese fordert Thomas G. auf zu berichten, was er getan habe. Es ist der Auftakt einer fünfstündigen Quälerei, an der sich nur der 25-jährige Mongole nicht beteiligt – er holt aber auch keine Hilfe. Die vier treten ihr Opfer in die Nieren, zwingen ihn, seinen Urin zu trinken, halten seinen Kopf unter die Toilettenspülung, stülpen ihm einen Mülleimer über den Kopf und rammen ihm eine Flasche in den After. Gegen drei Uhr nachts gibt er beim Gefängnispersonal einen von Andreas R. diktierten Antrag ab: „Ich bin ein Kinderschänder und bitte um Verlegung in eine andere Zelle.“ Bei Zellenaufschluss um sechs Uhr zeigt er die Mitgefangenen an.
Mit der Verlesung dieser Anklage begann gestern am Landgericht der Prozess gegen die mutmaßlichen Täter. Zu Beginn äußerte sich nur der türkische Angeklagte. Erst wollte er das Geschehen nur gehört haben, dann räumte er ein, etwas gesehen zu haben. „Ich habe vergessen, was da alles los war“, sagte Mücahit C. Schließlich bestätigte er alle Punkte außer der Misshandlung mit der Flasche, die aber durch ein DNA-Gutachten belegt ist.
Natürlich traf es keinen Unbescholtenen: Das Urteil gegen Thomas G., das der Richter gestern noch einmal vortrug, offenbart grausame Details der Misshandlung eines Heimjungen, allerdings ohne sexuellen Hintergrund. Die Schilderungen der Tat von Thomas G. übertreffen an Rohheit das, was ihm in Tegel angetan wurde, bei weitem. Doch Gewalt entschuldigt nicht Gewalt, sie offenbart nur die Mängel chronisch überfüllter Haftanstalten. 1.571 Häftlinge kann die JVA Tegel aufnehmen, rund 1.700 sitzen nach Angaben eines Sprechers ein. Die Möglichkeiten des offenen Vollzugs und der Strafaussetzung sind ausgeschöpft – nicht jeder eignet sich für diese Maßnahmen.
In den Neunzigerjahren wurden die Strafen für Betrug, Sexualdelikte, Körperverletzung und Terrorismus erheblich angehoben. Für die Haftanstalten bedeutete das Überbelegung: Seit zehn Jahren wächst in Berlin die Zahl der Häftlinge um jährlich 3 Prozent. An Sanierung der Altbauten in Tegel und Moabit ist bei konstanter Überbelegung auch nicht zu denken. Mindestens drei Gruppenräume, die eigentlich für Resozialisierungsmaßnahmen gebraucht würden, baute man in Tegel zu Gemeinschaftszellen um. Ein neuer Knast für 650 Häftlinge soll bis 2010 in Großbeeren entstehen, der Bau wird etwa 87 Millionen Euro, der Unterhalt 20 Millionen Euro kosten. Diese Problemlösung ist nicht sonderlich kreativ, das Geld wäre in der Prävention besser aufgehoben. Vorschläge der Grünen, etwa noch mehr der über 30 Prozent nichtdeutscher Straftäter ihre Strafe im Heimatland verbüßen zu lassen, wurden ebenfalls nicht weiterverfolgt.