Jesus darf kein Lausebengel sein

ANTISEMITISMUS Eine Hamburger Ausstellung beleuchtet den Skandal, den im Jahr 1879 eine allzu realistische Jesus-Darstellung Max Liebermanns auslöste

Eigentlich ist er ein ganz normaler Junge. Ein barfüßiger dunkelhaariger Zwölfjähriger mit beginnenden Schläfenlocken. Er diskutiert mit einigen Herren. Ort des Geschehens ist eine Synagoge. Und dies ist das Entscheidende: Es war eben nicht irgendwer, den Max Liebermann da gemalt hatte, 1879. Sondern der „Zwölfjährige Jesus im Tempel“, der einen Skandal auslöste und dem derzeit eine Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle gilt.

Jesus im Tempel, das ist ein in der Kunst lange eingeführtes Thema. Von dem klar war, wie man es zu malen hatte: den Jesus engelgleich und den Rabbinern intellektuell voraus. Die christliche Religion hatte der jüdischen überlegen zu sein. Da passte es manchem schlecht, Jesus als das zu malen, was er wohl war: einen jüdischen Bengel.

Denn die Menschen, die das Bild 1879 in der Internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast sahen, verstanden, dass da von jüdischer Emanzipation die Rede war. Und die Reaktion erfolgte prompt: Über Monate hetzten Kritiker, deren Texte die Hamburger Ausstellung nun zeigt. Die meisten argumentierten offen antisemitisch: „Ein schielender Judenknabe im schmutzigen Kittel mit rothem Haar“, schrieb etwa Heinrich Merz im Christlichen Kunstblatt, verhandele auf dem Bild „mit übelriechenden gemeinen Schacherjuden“.

Hintergrund war aber nicht bloß Antisemitismus, sondern auch der beginnende, noch zur Provokation geeignete Realismus, der die bis dahin üblichen Historienbilder ersetzen wollte. Liebermann vertrat diesen Realismus vehement und hatte dafür auch schon einmal Ärger bekommen: 1872, für seine „Gänserupferinnen“. Den Jesus allerdings vom Sockel zu holen – das war eine geradezu unverzeihliche Blasphemie.

Liebermann hatte das nicht geahnt: Die Vorwürfe trafen ihn derart, dass er den „Jesus“ übermalte. In Hamburg ist nun dieses übermalte Bild zu sehen, neben einer Fotografie des ursprünglichen und mehreren Studien. In der späteren Fassung trägt Jesus glattes Haar und ein ordentliches Gewand und gestikuliert verhalten. Nichts an ihm war nun offenbar noch als jüdisch zu lesen, und als das Bild 1907 in Berlin erneut gezeigt wurde, blieb alles ruhig. Auch Alfred Lichtwark, der das Werk 1911 für die Hamburger Kunsthalle erwarb, war zufrieden: Die Menschen stünden andächtig davor, schrieb er. Lichtwark wusste nichts von der Übermalung, Liebermann hatte es nicht erwähnt. Sein Versuch, die Stereotypen der Jesus-Darstellung zu durchbrechen, war gescheitert.

Liebermann hat später nie wieder religiöse Stoffe gemalt. Eine Hetzjagd reichte ihm wohl. Und so verführerisch es sein mag, den damaligen Skandal in eine Linie zu stellen mit dem Mohammed-Karikaturenstreit von 2005: Dieser Vergleich hinkt. Liebermann vermied bewusst die Karikatur: Alle für das Gemälde verwandten Modelle stammten aus christlichen Spitälern. PS

bis 18. 7., Hamburg, Kunsthalle