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Archiv-Artikel

Rotkäppchen am Glücks-Abgrund

Die Volksbühne wieder im Ruhrgebiet: René Pollesch zeigt „Cappucceto Rosso“ bei den „Stücken“ in Mülheim

Eine Diva hat ihren Zauber verloren. Geld verdienen im neoliberalen Repräsentations-Theater wird nun schwierig. Leichter hat es der böse Bernd Eichinger. Der kann mit Nazis Euros machen. Doch wie kann die Welt gerettet werden? Indem alle Nazis spielen? René Pollesch, einer der wichtigsten Autoren und Regisseure des deutschen Gegenwartstheaters, ist wieder mit von der Partie um den Dramatikerpreis der Stadt Mülheim.

Gewonnen hat er ihn schon einmal. In diesem Jahr ist er wieder ein heißer Kandidat. Sein neuestes Stück „Cappucceto Rosso“, Teil einer Trilogie über „Heterosexualität, Repräsentation, Mittelstand ... und alles was sonst noch nicht als Problem markiert ist“ wurde begeistert aufgenommen. Die „Stücke“ haben eben ein anderes Publikum als die Stadttheater oder die Ruhrfestspiele in Recklinghausen.

Wie immer bei Pollesch hat der theatrale Raum von Bert Neumann drei Ebenen: Die Bühne, den Zuschauerraum und die Videoleinwand. Durch die Filmtechnik lassen sich Szenen hinter der Kulisse beobachten, Ton- und Kameraleute werden Teil der Inszenierung, selbst die Souffleuse spielt mit. Veränderte Arbeits- und Lebensverhältnisse fordern zur Suche nach neuen Überlebensstrategien heraus, auch im zeitgenössischen Theater, dass, so Pollesch, eigentlich nur dazu dient, dass alle anschließend nach Hause fahren können. „Auch wenn das die einzige Möglichkeit ist, zu handeln. Ins Theater fahren und wieder nach Hause“, sagen seine Schauspieler. So beschreibt der Regisseur, der gerade in Buenos Aires weilt, das heutige Repräsentations-Theater, das sich auch in NRW hemmungslos etabliert hat.

„Cappucceto Rosso“ ist in der Trilogie das eher ruhige Stück, mit einer nachvollziehbaren Handlung, mit greifbaren Figuren, die ihre klassischen Rollen irgendwie verloren haben. Maria Tura, Polens größte Schauspielerin, verliert bei der Probe zu „Die Nazischickse“ ihren Zauber, die einzige Möglichkeit Glück zu erlangen – ohne Geld. Aber was bedeuten Glücksversprechen, wenn das Glück gar nicht verdient werden kann und mit dem Leben schon gar nichts mehr zu verdienen ist? Dazu diese links-progressiven Künstler. Die seien deshalb so gefragt auf dem Kunstmarkt, weil sie scheinbar kritiklos in neoliberalen Verhältnissen leben und arbeiten, sagt eine von Polleschs Protagonistinnen. Anschließend prügeln sie sich wieder darum, wer am überzeugendsten einen Nazi spielen kann. Irgendwo muss das Geld ja heute herkommen und die Videocam ist immer dabei.

Ein wunderbarer Text, vier wunderbare Schauspieler und „auf irgendeine vertrackte Art und Weise war es auch Theater“ (Pollesch). PETER ORTMANN