In der Leere liegt die Schere

Vom pubertären Schocker zum Bußprediger: Die Kliniken Westend gedachten ausführlich des ehemaligen Pathologiekollegen und Dichters Gottfried Benn

Gottfried Benn war als Dichter mehr und als Arzt weniger bekannt. In den DRK-Kliniken Westend arbeitete er zwei Jahre als Pathologe. Anlässlich seines 50. Todes- und 120. Geburtstages erinnerte der Förderverein Kunst dieser Kliniken am Samstag mit einer ausführlichen Veranstaltung an ihn. Es war wie ein Déjà-vu, dahin zu gehen. Als ich Anfang zwanzig war, war Benn einer meiner Lieblingsschriftsteller gewesen. Später hatte ich nur noch höhnisch die Gedichte zitiert, die mir zuvor so nahe gewesen waren: „Durch so viele Formen geschritten / durch Ich und Wir und Du / doch alles blieb erlitten / durch die ewige Frage: wozu? / Das ist eine Kinderfrage / Dir wurde erst später bewußt, /es gibt nur eines: ertrage / – ob Sinn, ob Sucht, ob Sage – /dein fernbestimmtes: Du mußt.“

Um 9.30 Uhr wurde zunächst eine wunderbar knappe Gedenktafel am Pathologischen Institut enthüllt: „Der Dichter Gottfried Benn (1886–1956) arbeitete in den Jahren 1912/13 als Arzt am Pathologischen Institut des Krankenhauses Wedding. Seine frühen Dichtungen sind geprägt von seinen Eindrücken als Pathologe.“ Dann ging es in den mit etwa 300 Benn-Interessierten überfüllten Hörsaal und ein Mann sagte launig: „Ach, die taz schreibt über Herrn Benn. Hoffentlich mit einem Unterton.“

Dann las Gisela Stoltenburg aus den 300 Sektionsprotokollen Benns vor. Die seien mit der Zeit immer kürzer geworden und am Ende habe da oft nur noch ein „o. B.“ gestanden, also ohne Besonderheiten. „Ein Pathologe am Ende seines pathologischen Enthusiasmus“, kommentierte trocken die Oberärztin der Neuropathologie. Manchmal klingelte leis polyphon ein Telefon, jemand stand auf und man dachte gleich: Notoperation.

Der Wissenschaftshistoriker Dr. Christoph Hoffmann referierte über die Virchow’sche Sektionstechnik und die sprachlich äußerst reglementierte Form des Sektionsprotokolls. Manche mag es überrascht haben, dass die Sprache der Pathologie „einen großen Schatz an Farbnuancen“ in sich trägt. Hans Christoph Buch sprach vom „pubertären Schockelement“ der frühen Benn-Gedichte und erzählte, dass der ältere Dichter diese Sachen nur noch betrunken hätte ertragen können. Die Zeile „durch die Leere / klirrt eine zu Boden geworfene Schere“ aus dem Gedicht „Blinddarm“ sei seine liebste.

Manche diskutierten angenehm trocken Benns Arbeit über Pubertätsepilepsie aus heutiger Sicht oder gaben in kunstvoll gebauten Essays ihrer Verehrung für den Dichter Ausdruck. Das Bußpredigerhafte in Benns Werk wurde enttarnt und Professor Büchel fragte, ob Benn ein guter Chefarzt gewesen wäre – wohl teils, teils. Es ging um die Kontingenz- als Generationserfahrung, das Leiden am Auseinanderfallen von Sprache und um das unrettbare Ich bei Nietzsche, Rilke, Woolfe, Freud, Proust, Musil und Benn.

Der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff, der in den Fünfzigerjahren als Erster das Gesamtwerk Benns herausgegeben hatte, sagte, er habe sich seit Jahrzehnten nicht mehr mit Benn beschäftigt. Die Fremdheit gegenüber Benn habe zugenommen; seine Meinungsfreude habe ihn irgendwann abgestoßen. Sein Vortrag „Leben – was sonst“ handelte vom existenziellen Lesen – davon, dass man etwas sucht in den Texten der Dichter, die dann manchmal sagen, so sei es ja gar nicht gemeint gewesen. Wellershoff erzählte von einem jungen Mann, der ihn vor Jahren interviewt hatte. Obwohl es eigentlich um anderes gegangen sei, habe der junge Mann nach Antworten auf Lebensfragen gesucht. Wenig später habe sich dieser junge Mann das Leben genommen. „Dass er versucht hatte, sich an mir zu orientieren, hat ihm nicht gut getan.“ DETLEF KUHLBRODT