Im Netzwerk der Einzelfälle


AUS GELSENKIRCHEN MANFRED WIECZOREK

Doris Stöcker mochte nicht als Einzelschicksal abgestempelt werden. Und so hat sich die 59-jährige Sekretärin nach Einführung von Hartz IV einer Selbsthilfegruppe angeschlossen. Trotzdem: „Mit den ganz konkreten Problemen stehst du letztlich allein da“, sagt Stöcker. Rund 20 Frauen und Männer kommen alle 14 Tage in den Räumen des evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen zusammen, um sich auszutauschen, gegenseitig zu unterstützen und Aktionen vorzubereiten. Ihr Treffpunkt ist ein Konferenzraum, ein schmuckloser, funktional eingerichteter Raum mit Flipcharts, Magnettafel und einer Leinwand. Wenigstens der Ausblick aus der vierten Etage könnte schön sein, fiele der Blick nicht auch auf das wenige hundert Meter entfernte Gebäude der Agentur für Arbeit.

Zwangsumzug. Dieses Wort fällt oft an diesem Vormittag. In der Nachbarstadt Bochum wird Druck gemacht. Joachim Sombetzki hat von angedrohten Zwangsumzügen gehört. „Das ist in Recklinghausen auch nicht anders“, weiß Ralf Schubert, der dort zu Hause ist. Alle 14 Tage donnerstags kommt er nach Gelsenkirchen zur Hartz-IV-Selbsthilfegruppe. „Bei uns gibt es nichts Vergleichbares“, sagt er Schulter zuckend. Eine Unterschriftenaktion habe die Umzugswelle in Recklinghausen vorerst gestoppt. „Vorerst“, wiederholt er und berichtet von einer Aktion in Oberhausen. Dort hätten Betroffene im Schlafsack vor dem Rathaus übernachtet, um gegen den erzwungenen Wohnungswechsel zu protestieren.

Reizwort Zwangsumzug

Immer neue Zahlen schwirren durch den Raum. Sind es nun 230 oder 260 Euro Kaltmiete, die die Wohnung einer allein stehenden Hartz IV-BezieherIn kosten darf? Und sind darin schon die Nebenkosten enthalten? Niemand weiß die Antwort. Auch Joachim Sombetzki muss passen. Dabei ist er der Rechtsexperte der Gruppe. Fast hätte er es geschafft, Jurist zu werden. Aber der 48-Jährige steht ohne jeden Berufsabschluss da. Auch ein Philosophiestudium schloss er nicht ab, jobbte immer mal wieder und versuchte sich auch als Existenzgründer mit einem Esoterikladen. Heute ist er Hartz-IV-Empfänger.

Seine Umtriebigkeit und seinen Optimismus hat er noch nicht verloren. Auch die aufkommenden Ängste vor Zwangsumzügen weiß er zu relativieren. In Gelsenkirchen seien die Behörden noch zurückhaltend. „Liegt vielleicht auch an unserer Gruppe. Und wenn wir uns vernetzen, werden wir noch mehr erreichen können“, leitet Joachim Sombetzki zum nächsten Tagesordnungspunkt über.

Adela Vorderwülbeck berichtet von einem landesweiten Vernetzungstreffen von Erwerbsloseninitiativen in Bochum. Die Gelsenkirchener waren zum ersten Mal dabei. Adela Vorderwülbeck hingegen ist politisch erfahren. Die aktive Gewerkschafterin ist in der Frauenbewegung engagiert und wehrte sich schon Ende der 70er Jahre, als Arbeitersiedlungen platt gemacht werden sollten. Die 54-Jährige, die ihre langen grauen Haare mit einem Stirnband bändigt, wirkt selbstbewusst und kämpferisch. „Ja, das war ich auch immer. Und trotzdem hätte ich den größten Kampf meines Lebens fast verloren“, erzählt sie. Anfang der 90er Jahre hatte sie eine schwere Krankheit aus dem Arbeitsleben gerissen. Für die Floristikmeisterin, die in ihrem Bereich auch in der Aus- und Fortbildung tätig war, begann danach der lange Kampf gegen den Abstieg.

„In den so genannten ersten Arbeitsmarkt bin ich nicht mehr reingekommen“, blickt sie zurück. Phasen der Arbeitslosigkeit wechselten sich mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Fortbildungen ab. Bis sie schließlich bei Hartz IV landete. „Hätte es Hartz schon vor zehn Jahren gegeben, ich hätte die Zeit nach meiner Krankheit nicht überlebt“, ist sie sicher. Damals habe sie noch über finanzielle Reserven verfügt, auch der Druck sei noch nicht so groß gewesen. „Die Rutschbahn nach unten war noch nicht so steil wie heute. Der Umgang der Behörden mit einem noch nicht so offen herablassend und schroff“, sagt sie.

Fast zerbrochen

Auf Anraten ihrer Ärztin hat sich die 54-Jährige frühverrenten lassen. Hartz IV hatte sie in eine gerichtliche Auseinandersetzung gezwungen. „Die habe ich gewonnen. Aber ich merke, wie die Kräfte schwinden“, sagt Adela Vorderwülbeck leise. Allein habe sie das alles ausfechten müssen, was sie zu zermürben drohte. Die politische Auseinandersetzung hat sie noch lange nicht aufgegeben. „Mir hat der politische Kampf auch immer geholfen, die Dinge in meinem Kopf klar zu kriegen. Sonst hätten Krankheit und Arbeitslosigkeit mich gebrochen“, sagt Vorderwülbeck. Auch in der Hartz IV-Selbsthilfegruppe wird die politische Auseinandersetzung wichtiger, hat Pfarrer Dieter Heisig vom Industrie- und Sozialpfarramt des Kirchenkreises Gelsenkirchen beobachtet. Er hat mitgeholfen, die Gruppe aufzubauen. „Man konnte und wollte sich in der Gruppe nicht immer wieder nur selbst bespiegeln“, sagt der Pfarrer.

Und so wurden im vergangenen Jahr die Wahlen genutzt, um auf die tiefen Einschnitte durch Hartz IV und andere arbeitsmarktpolitische Themen aufmerksam zu machen. Auch in diesem Jahr gab es wieder Fahnen und Transparente zum 1. Mai. Die Gruppe veranstaltete Aktionen wie „Wohnträume auf 42 Quadratmetern“ oder den „Hartz IV-Waschsalon“.

Doch auch an diesem Morgen zeigt sich wieder, wie schnell die persönlichen Sorgen und Nöte nach individuellen Antworten verlangen und politische Fragen verdrängen. Joachim Sombetzki wirbt für den gemeinsamen Besuch einer Veranstaltung, in der es um Alternativen zur Arbeitsgesellschaft geht. „Ein wichtiges Thema“, pflichtet Doris Stöcker ihm bei. Erst kürzlich habe sie von einem Professor gehört, der gesagt habe, die Hartz IV-Bezüge seien noch immer viel zu hoch, so würden keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Bei Hartz kürzen wollen inzwischen viele, weil die Kosten angeblich explodieren – sogar einige Wohlfahrtsverbände haben sich in diesem Sinne geäußert.

„Der feine Herr Professor kann ja gerne mal mit mir tauschen“, empört sich jemand aus der Gruppe. Er berichtet, dass ein großer Teil des Hartz IV-Geldes seiner Frau schon für die Anfahrt zu einer Fortbildung drauf gehe. „Das kann nicht sein“, versucht Joachim Sombetzki zu beschwichtigen. Das sei doch eindeutig geregelt. Doch angestaute Wut und Enttäuschung brechen sich Bahn. „Ach was“, ruft jemand lautstark dazwischen und winkt ab. „Ich bekomme meine Bewerbungskosten doch auch nicht ersetzt.“ Bei dem Einen war es die Begleitperson bei einem Beratungsgespräch, die kurzerhand vor die Tür gesetzt wurde, bei einer Anderen sind es ohne ersichtlichen Grund einbehaltene Gelder, die für Unmut sorgen.

Keine Einzelfälle

Obwohl hier Menschen an einem Tisch sitzen, die mittlerweile ExpertInnen in Sachen Hartz IV sind, kann nicht alles zweifelsfrei geklärt werden. „Mit diesen ganz konkreten Dingen steht der Einzelne schlussendlich doch alleine da und muss es durchfechten“, stellt Joachim Sombetzki fest. Für einen kurzen Moment scheint auch er seinen Optimismus verloren zu haben. Doch Marlies Mrotzek will eines unbedingt verhindern: „Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass das alles nur Einzelfälle sind“, sagt sie. Deshalb will die Historikerin die Fälle in einer Ausstellung und in einem Buch dokumentieren, das System hinter den vermeintlichen Einzelschicksalen zeigen.

In zig Projekten, Ausstellungen und Publikationen hat sie bewiesen, dass sie ihr Handwerk versteht. Dieter Heisig hat für die Historikerin einen Ein-Euro-Job mit dem Industrie- und Sozialpfarramt als Träger beantragt, damit sie an der Dokumentation arbeiten kann. Mrotzek hadert ein wenig damit. „Ich weiß ja, dass diese Ein-Euro-Jobs politisch höchst umstritten sind“, sagt sie und holt hörbar Luft. „Ich werde die Dokumentation auf jeden Fall angehen, so oder so. Aber ein wenig materielle Unterstützung und auch Anerkennung wäre nicht schlecht.“

Sie weiß, dass sie sich ein hartes Stück Arbeit vorgenommen hat. Viele würden sich gar nicht aus der Anonymität heraustrauen, außerhalb des Schutzes der Selbsthilfegruppe so gut es geht verheimlichen, dass sie in Hartz IV gerutscht sind. Doch genau dem will sie entgegentreten. Mrotzek beugt sich vor, blickt in die Runde. „Unsere kleine Gruppe hier, wir sind doch nur die Spitze eines riesengroßen Eisberges. Von wegen selbst verschuldetes Einzelschicksal.“